Vorhalle. Tatjana ist wie ich. Und ich bin wie Tatjana. Eine Begegnung zum Osterfest in einer Hagener Notunterkunft. Mit Tatjana und ihrer Familie.
Tatjana ist ich. Und ich bin Tatjana. Wir sind genau gleich alt. Sie hat drei Kinder. Ich in wenigen Wochen auch. Mit ihrem Mann Eduard hat sie sich ein ordentliches Leben in der Mitte der Gesellschaft aufgebaut. So wie wir auch. Nun steht sie mit glasigen Augen, aber einem starken Rückgrat vor mir in der Notunterkunft Karl-Adam-Halle in Hagen. 2200 Kilometer von ihrem Heimatort Sumy in der Nordostukraine, kurz vor der russischen Grenze, entfernt. Sie schläft seit vier Wochen auf einem Feldbett. Nun ist Ostern. Das Fest der Auferstehung. Das Fest des Lebens. Wir, die eigentlich so gleich sind, begegnen uns.
Keine Vorbehalte, keine Angst, keine Scheu
Alex übersetzt. Ein Mann Mitte 50. Vor knapp 25 Jahren nach Haspe gekommen. Und zwar aus Sibirien. Alex ist Russe, war selbst mal beim Militär. Sein ziemlich einfaches Credo: „Ich sehe den Menschen. Ich helfe, wenn einer Hilfe braucht. Egal, ob er Ukrainer oder Japaner ist.“ Feind und Überfallene – dieses Narrativ gibt es hier nicht. Keine Vorbehalte, keine Angst, keine Scheu.
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Ich muss das hier in der Ich-Form schreiben. Ich habe einen Kloß im Hals. Mein eigenes Leben steht wie ein Spiegel vor mir, wenn ich die aneinander gestellten Feldbetten jeder Familie sehe. Die Kinder, die auf blauen Turnmatten mit geschenkten Spielsachen spielen. Die fehlende Privatsphäre. Die Dauer des Wartens, die Erschöpfung, die fehlende Perspektive, die wie ein Geruch in der Luft liegt.
Tatjana ist taff. Sie ist in ihrer 246.000-Einwohner-Stadt an der russischen Grenze eigentlich Buchhalterin, ihr Mann im Finanzwesen tätig. Er „darf“ mit hier sein, weil er Vater dreier Kinder ist. Er musste nicht in den Krieg gegen die Russen ziehen.
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Dass aus Sumy, der Stadt, aus der die Familie kommt, nun ähnliche Informationen wie aus Butscha und Mariupol kommen, wo die russische Armee Gräueltaten verübt hat, darüber sprechen wir nicht im Detail.
Zumal Tatjanas Kinder – 12, 8 und 6 – dabei sind. Als ich nach ihrer Heimat frage, fängt die älteste Tochter an zu weinen. Wie würden mein Sohn oder meine Tochter sich fühlen, wenn morgen Bomben über Boele niedergingen? Wenn wir vielleicht für immer gehen müssten. Wenn nicht klar wäre, wie es unseren Nachbarn geht. Wenn Freunde sterben. Wenn sexuelle Erniedrigung und Vergewaltigung als psychologische Waffe die Verbliebenen zerstören.
Vier-Zimmer-Wohnung wird benötigt
Ich habe Tatjana vom Tisch weggeholt. Sie und ihre Familie büffelten gerade Deutsch mit einer Lehrerin. „Wir wollen hier ankommen“, sagt sie. Die Sprache lernen, schnell eine Wohnung finden. Auf die warten sie noch. Für ihre große Familie wird eine Vier-Zimmer-Wohnung benötigt. „Die werden wir finden“, sagt Frank Ehlting, bei der Feuerwehr zuständig für Bevölkerungs-, Zivil- und Katastrophenschutz und damit auch für die Notunterkünfte in der Adam-Halle, der Turnhalle Berghofstraße, der Stadthalle und der Sporthalle Kapellenstraße. Insgesamt stehen 373 Plätze zur Verfügung. 255 sind aktuell belegt. In der Adam-Halle sind aktuell 114 Personen.
Angst, bombardiert zu werden
In einem Skoda Octavia ist Tatjana mit sechs weiteren Menschen quer durch die Ukraine nach Hagen gefahren. Mit ihren Kindern, ihrem Mann und ihrer Nichte, die sie kurzerhand noch eingesammelt haben. Sie sitzt im Rollstuhl. „Da war ständig die Angst, bombardiert zu werden“, sagt sie. Sie sind einfach auf die Autobahn gefahren und dann los. Nun sind sie in Vorhalle. Jüngst hat ein Vorhaller Aktionsbündnis noch neue Bettwäsche gebracht, die gegen die Standardbettwäsche des Katastrophenschutzes ausgetauscht wurde. Es ist etwas gemütlicher geworden.
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Ihre Perspektive ist unklar. Was wird aus ihnen? Aus ihnen, die so sind wie meine Familie und die einen ganz anderen Lebensplan hatten. Tatjana trauert nicht. Weil sie vorwärtsgerichtet ist und vielleicht auch, weil sie für ihre Familie stark sein will. „Es geht weiter. Wir wollen uns jetzt hier integrieren“, sagt sie.
In der Halle nebenan liegen Kinder auf den Feldbetten, deren Zukunft eigentlich auch eine andere hätte sein sollen. Sie wirken zwischendurch fröhlich, dann wieder in sich gekehrt. Sie sind traumatisiert und doch einfach nur Kinder. Ein Neuanfang in Hagen? Ja, das ist möglich. Osterhasen sind am Tresen der Adam-Halle aufgehängt worden. Ostern ist ein wichtiges Fest in der nordöstlichen Ukraine. Nun ist es doppelt symbolisch. Es geht um ein neues Leben mitten im bisherigen.