Hochsauerlandkreis. In der Familie geht‘s nicht mehr: Die Zahl der Kinder und Jugendlichen im HSK in Heimen wächst. Das Jugendamt spricht Klartext über die Gründe.

Die Zahl der jungen Menschen, die in Nordrhein-Westfalen in einem Heim, einer sonstigen betreuten Wohnform oder in einer Pflegefamilie untergebracht wurden, ist im Jahr 2023 nach Rückgängen in den Vorjahren erstmals wieder gestiegen. Wie Information und Technik Nordrhein-Westfalen als Statistisches Landesamt mitteilt, meldeten die Jugendämter in 2023 mindestens 58 422 junge Menschen, die in einem Heim oder einer Pflegefamilie aufwuchsen. Das waren 2,4 Prozent mehr als im Jahr zuvor (2022: 57 077). Auch im Hochsauerlandkreis sind die Zahlen gestiegen. 2021 waren es noch 165 Kinder, die in einem Heim oder sonstigen betreuten Wohnformen lebten. 2023 sind es schon 182 Kinder.

Warum sind so viele Jugendliche in einem Heim oder leben in betreuten Wohnformen? Was sind die häufigsten Gründe dafür?

Martin Reuther, Pressesprecher des Kreises, hat für die WP Rücksprache mit dem Kreisjugendamt gehalten. „Die Gründe hierfür liegen in der Überforderung der Eltern, die vielfältigen Aufgaben der Erziehung ihrer Kinder zu leisten. Probleme der Kinder/Jugendlichen, wie Schulabstinenz, Suchterkrankungen, psychische Störungsbilder, Delinquenz und andere Verhaltensprobleme können in der Familie trotz flankierender ambulanter erzieherischer Hilfen nicht bewältigt werden“, heißt es. Das bestehende Familiensystem drohe auseinanderzubrechen. Eine Lösung der Problemsituation sowohl für die Familie als auch für das betreffende Kind oder Jugendlichen sei dann eine Unterbringung außerhalb der Familie in einer betreuten Wohnform.

Kinder mit niedrigem Sozialstatus häufiger einsam
Die Zahl der Kinder, die in Heimen oder in betreutem Wohnen unterkommen, steigt auch im Sauerland. © picture alliance/dpa | Annette Riedl

Warum war die Entwicklung zurückgegangen, wieso steigt sie nun wieder?

Die gesellschaftlichen Entwicklungen und Auswirkungen der Corona-Pandemie (2020 bis 2022) haben laut Kreisjugendamt auf diese Steigerung die größten Einflüsse. „Während der Pandemie wurde die Betreuung und Erziehung aufgrund der Corona-Auflagen fast ausschließlich in der Familie geleistet, was hohe Anforderungen in allen Bereichen an die Familien stellte und viele überforderte. Die soziale und (vor)schulische Förderung sowie therapeutische/medizinische Behandlungen standen nur bedingt zur Verfügung. Auch die Unterstützungsleistungen der Jugendhilfe waren durch die Corona-bedingten Auflagen eingeschränkt.“ Die Kinder und Jugendlichen hätten durch die Einschränkungen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten entwickelt, die in der Familie nicht mehr aufgefangen werden konnten und außerfamiliäre Unterbringungen erforderten. Ein weiterer Grund für den Anstieg sei die steigende Anzahl der unbegleiteten minderjährigen Ausländer in einer betreuten Wohnform.

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Was braucht es aus Sicht des Kreisjugendamtes, um den Kindern zum einen ein Leben in ihrer Familie zu ermöglichen, zum anderen aber auch, um sie bestmöglich aufzufangen wenn dies nicht mehr möglich ist?

Da wird das Kreisjugendamt deutlich: „Starke Eltern, ausreichend finanzielle Ressourcen, Unterstützungs- und Entlastungsangebote im Sozialraum, zuverlässige kontinuierliche Beschulung, Beratungsangebote und zuletzt Unterstützungsleistungen der Jugendhilfe.“

Gibt es spezifische familiäre Herausforderungen, die in den letzten Jahren zugenommen haben und eine Heimunterbringung wahrscheinlicher machen?

Ziel der Jugendhilfe sei primär, immer das Familiensystem dahingehend zu unterstützen, die alltäglichen Herausforderungen (Betreuung und Erziehung der Kinder /Jugendlichen) selbst zu bewältigen bzw. sie dazu zu befähigen. „Die Frage ist so nicht zu beantworten, da in jedem Fall vor einer Heimunterbringung eine individuelle komplexe Anamnese und Bedarfsermittlung des Familiensystems durch das Jugendamt erfolgt, ambulante Jugendhilfeleistungen vorgeschaltet werden und die Herausforderungen an die Familie nicht zu generalisieren sind“, gibt das Kreisjugendamt an.

Heim
Das Leben außerhalb der eigenen Familie ist manchmal für Kinder der letzte Ausweg. © DPA Images | Friso Gentsch

Welche präventiven Maßnahmen oder Programme gibt es, um Familien zu unterstützen und Heimunterbringungen zu verhindern?

Familienunterstützende und frühkindliche Angebote und Netzwerke, Beratungsstellen. Generell werden Familien vom Jugendamt begleitet, die im Sozialraum zur Verfügung stehenden Unterstützungsleistungen kennenzulernen, bzw. dort angebunden zu werden. „Einen großen Stellenwert hat hier das Jugendzentrum Ankerplatz Norderney, hier können sowohl Kinder, Jugendliche und Eltern mit Kind eine Auszeit von einigen Wochen aus dem Alltag zur Entlastung, Selbstfindung und Stärkung erfahren“, heißt es weiter. Besonders in Konfliktsituationen sei dieses Angebot eine entlastende und stärkende Hilfe.

Daneben gibt es weitere präventive Angebote der Jugendförderung:

• Kinderschutzparcours für Kids von 8-12 Jahren ab 2025; Themen sind hier: Kinderrechte, Gewalt, Wut und Macht, Nähe und Distanz, Gefühle, Hilfe holen

• Klassische“ Präventionsangebote im Rahmen des Kinder- und Jugendschutzes zu Themen Medien, Tabak, Alkohol etc.

• In Kooperation mit dem Gesundheitsamt führen wir den Body und Grip`s Parcours an Schulen durch für Kids zwischen 11-15 Jahren: Themen sind hier u.a.

• Psychische Gesundheit, Selbstvertrauen, Achtsamkeit, Körperliche Gesundheit

• Theaterstücke zu unterschiedlichsten Themen

• Schulen bieten u.a. via SSA Präventionsangebote zur Resilienzbildung an.

Was tut das Kreisjugendamt konkret, um Kinder und Jugendliche in Heimen eine stabile und sichere Umgebung zu bieten?

Eine Hilfe des Jugendamtes orientiert sich laut Angaben des Kreises an der Bedarfslage des Einzelnen und wird individuell gestaltet. „Nach Installierung einer Hilfe zur Erziehung (ambulant, wie stationär) findet eine regelmäßige Hilfeplanung (Überprüfung, Fortschreibung, Erfolg, Zielsetzung der Hilfe) mit allen Beteiligten (Partizipation) statt. Parallel werden während einer Unterbringung den Eltern Unterstützungsangebote zur Stärkung ihrer Erziehungskompetenzen gemacht und umgesetzt. Im Hilfeprozess wird kontinuierlich geprüft, inwieweit der Entwicklungsprozess des Kindes/Jugendlichen eine Rückkehr in die Familie ermöglicht.“

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