Brilon/Hallenberg. Werner Litfinski kämpft verzweifelt um seine Frau: Sie liegt im Wachkoma, er darf sie wegen eines Gutachtens nicht mehr Zuhause pflegen.

Der 28. August 2010 war ein Tag, der das Leben von Werner und Angelika Litfinski komplett aus den Fugen gebracht hat. Die damals 49-jährige Hallenbergerin erlitt damals eine Aneurysmablutung im Gehirn und ist seitdem Wachkoma-Patientin. Bis Anfang dieses Jahres wurde sie zu Hause gepflegt. Dann kann für Werner Litfinski der nächste Schlag: Es gab ein neues medizinisches Gutachten und seine Frau wurde kurz darauf in eine stationäre Wachkoma-Einrichtung verlegt.

Kampf mit der Bürokratie

Werner Litfinski hat Tränen in den Augen, zeigt stumm auf das leere Pflegebett, das noch in dem Zimmer steht, in dem seine Frau in den vergangenen Jahren zu Hause gepflegt wurde – mit Hilfe einer täglichen 20-Stunden-Betreuung durch einen Intensivpflege-Dienst. „Jetzt habe ich meine Frau zum zweiten Mal verloren“, ringt der 68-Jährige um Fassung. Er erzählt: „Ich weiß überhaupt nicht mehr, wo mir der Kopf steht, ich kämpfe mit der Bürokratie und mache mir große finanzielle Sorgen. Durch die Verlegung in die Wachkoma-Einrichtung sind inzwischen über 16.000 Euro Kosten Eigenanteil angefallen. Ich habe Sozialhilfe beantragt, aber weiß nicht, ob sie bewilligt wird und was noch alles finanziell auf mich zukommt. Ich fühle mich total allein gelassen.“

„Ich weiß überhaupt nicht mehr, wo mir der Kopf steht, ich kämpfe mit der Bürokratie und mache mir große finanzielle Sorgen. Ich fühle mich total allein gelassen.“

Werner Litfinski
ist verzweifelt darüber, wie sich die Situation entwickelt hat.

Als Angelika Litfinski im Januar vom Medizinischen Dienst Westfalen-Lippe zu Hause begutachtet wird, geht es um die Frage, ob weiterhin die Voraussetzungen für eine außerklinische Intensivpflege im Umfang von 20 Stunden täglich vorliegen. Ergebnis laut Begutachtung: Die Notwendigkeit einer außerklinischen Intensivpflege wird nicht bestätigt. Die Medizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung seien nicht erfüllt. Stattdessen werden andere Maßnahmen empfohlen. Als Begründung wird dort angeführt, dass bei der Patientin eindeutig Hilfestellungen im Bereich der grundpflegerischen Versorgung und punktuelle behandlungspflegerische Maßnahmen überwiegen würden, wie zum Beispiel die Medikamentenabgabe/Insulinabgabe sowie auch gelegentliches Absaugen und Bronchialhygiene. Außerdem heißt es dort: „Die Notwendigkeit, mit hoher Wahrscheinlichkeit sofort behandlungspflegerisch qualifiziert eingreifen zu müssen, lässt sich bei der Versicherten aktuell nicht bestätigen.“

Kritik an 15-Minuten-Begutachtung

Inzwischen hat sich der 68-Jährige, der viele Jahre für die SPD-Fraktion Mitglied im Hallenberger Stadtrat war, Unterstützung beim Sozialverband VdK geholt. Dadurch wurde erreicht, dass es eine erneute Beurteilung durch den Medizinischen Dienst geben wird, um die Notwendigkeit einer außerklinischen 20-Stunden-Intensivpflege zu klären. Werner Litfinski versteht dabei überhaupt nicht, was jetzt plötzlich anders sein soll als vorher: „Da kommt eine Frau vom Medizinischen Dienst, guckt sich das hier gerade mal 15 Minuten an und anschließend steht mein ganzes Leben auf dem Kopf. Das ist eine Unverschämtheit. Sie hat mir versprochen, mir zu helfen und dann bekomme ich so ein Gutachten. Ich kämpfe seit 14 Jahren um meine Frau. Ich bin wirklich total verzweifelt. Ich möchte Angelika doch nur wieder hier bei mir haben.“

Weite Anfahrt von Hallenberg nach Brilon

Anfang des Jahres wurde seine Frau nach einem Krankenhaus-Aufenthalt ins Wachkoma-Haus Oase in Brilon-Gudenhagen verlegt. Ganz praktisch bedeutet das für den Hallenberger: Wenn er seine Frau sehen möchte, muss er nun fast 45 Kilometer mit dem Auto fahren, um sie zu besuchen. Für den 68-Jährigen, der noch nebenbei in der Gastronomie jobt, ist das eine weitere Belastung. Doch so oft er kann, fährt er nach Gudenhagen. Er begrüßt sie, hält ihre Hand, spricht mit ihr, auch wenn er weiß, dass es keine Reaktion von ihr geben wird. „Trotzdem spüre ich, dass sie mich erkennt und merkt, dass ich da bin. Sie würde auch merken, wenn sie wieder in ihrer gewohnten Umgebung zu Hause wäre“, ist Werner Litfinski überzeugt.

In guten und in schlechten Zeiten

Der Hallenberger erzählt, dass er immer wieder gefragt werde, warum er denn seine Frau unbedingt zu Hause pflegen möchte. Oft schlage ihm völliges Unverständnis entgegen und es gebe viele gut gemeinte Ratschläge, dass die Pflege in einer Einrichtung doch auch für ihn vieles einfacher machen würde. Doch dazu hat Werner Litfinski eine ganz klare Meinung: „1990 haben wir geheiratet und uns versprochen, dass wir in guten und in schlechten Zeiten zusammenhalten. Jetzt sind eben die schlechten.“ An die guten Zeiten erinnert noch das Hochzeitsbild der beiden im Flur seines Hauses in Hallenberg. Da war die Welt noch in Ordnung. Bis zum 28. August 2010. Werner Litfinski erinnert sich noch gut daran, wie sie an dem Tag erst vorm Haus zusammensaßen und Angelika ins Haus ging, um sich hinzulegen, weil sie plötzlich so Nackenschmerzen hatte. Es war ihr letztes Gespräch.

Anspruch auf außerklinische Intensivpflege

Nach §37c Abs. 1 SGB V haben Versicherte mit einem besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege einen Anspruch auf außerklinische Intensivpflege. Ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege liegt demnach vor, wenn die ständige Anwesenheit einer geeigneten Pflegefachkraft zur individuellen Kontrolle und Einsatzbereitschaft oder ein vergleichbar intensiver Einsatz einer Pflegefachkraft erforderlich ist. Diese Voraussetzungen sieht das Gutachten des Medizinischen Dienstes bei Angelika Litfinski nicht erfüllt.

Das sagt die Barmer zu dem Fall

Zuständige Krankenkasse ist in diesem Fall die Barmer Ersatzkasse, die auf Anfrage der WP erklärt, „dass das Schicksal von Frau Litfinski und die Situation ihres Mannes unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keineswegs kalt lassen.“ Landespressesprecher Tobias Klingen bittet aber auch um Verstgändnis, dass die Barmer als gesetzliche Krankenkasse an die Vorgaben des Sozialgesetzbuchs gebunden sei.

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In der weiteren Stellungnahme heißt es: „Danach dürfen gesetzliche Krankenkassen oder Pflegekassen medizinische Fragestellungen nicht selbst beurteilen. Sie sind vielmehr verpflichtet, bei der Prüfung des Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen der Leistungsgewährung einer Außerklinischen Intensivbehandlung (AKI) die Medizinischen Dienste hinzuziehen. Die Medizinischen Dienste sind rechtlich unabhängig. Ihre Unabhängigkeit wurde vom Gesetzgeber durch das zum 1. Januar 2020 in Kraft getretene MDK-Reformgesetz eigens gestärkt. Zu einer Überprüfung oder Kommentierung der Entscheidungen der MD in medizinischer Hinsicht sind Kranken- und Pflegekassen daher nicht befugt. Die Gutachten der MD sind für ihre Leistungsentscheidungen in medizinischer Hinsicht richtungsweisend. Bei den Begutachtungen beachten die Medizinischen Dienste die Begutachtungsanleitung zur Außerklinische Intensivpflege.“

Im Fall von Familie Litfinski habe, so die Barmer, das Sozialgericht Dortmund den Antrag auf einstweiligen Rechtschutz per Beschluss vom 27. März 2024 abgelehnt. Dazu erklärt die Barmer: „Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass ein Anordnungsanspruch, das heißt ein Rechtsanspruch auf die begehrte Leistung, nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden ist. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir mit Blick auf das laufende Gerichtsverfahren keine weiteren Angaben machen können. In Bezug auf die anfallenden Kosten gehen wir davon aus, dass die im Prozess durch den VdK vertretene Klägerin bzw. ihr bevollmächtigter Ehemann ggf. bereits in Kontakt zum Sozialhilfeträger stehen.“

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