Medebach/Medelon. Nadja Polonska ist mit ihren beiden Töchtern vor dem Krieg in der Ukraine nach Medebach geflohen. Sie geben einen Einblick in ihr Seelenleben.

Als Nadja Polonska aus dem weißen Kleinbus mit ukrainischen Kennzeichen aussteigt und Maria Müller in die Arme fällt, fließen Tränen. Tränen der Erleichterung, aber auch der Wiedersehensfreude. Hier in Medelon bei Medebach scheint die Kriegshölle Ukraine, Polonskas Heimatland, weit weg. Vor einer Woche lebte die 37-Jährige mit ihrem Mann Dima (47), ihrer Mutter Ludmilla (71) und ihren Töchtern Victoria (13) und Varia (7) in der ukrainischen Hauptstadt Kiew - bis der russische Staatspräsident Wladimir Putin befahl, das Nachbarland anzugreifen. Nun, nach Tagen der Flucht, sind sie in Sicherheit - bei Freunden im Sauerland.

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Svitlana May und Petro Rushak  bangen um ihre Verwandtschaft in der Ukraine.
Svitlana May und Petro Rushak bangen um ihre Verwandtschaft in der Ukraine. © Unbekannt | Benedikt Schülter

Erinnerungen an eine friedliche Zeit

Nadja hat eine ganz enge Beziehung nach Medelon. Denn als ein sogenanntes Tschernobyl-Kind kam sie regelmäßig zu ihrer Pflegefamilie in das Sauerland. Josef und Maria Müller nahmen sie auf. Daraus wurde eine Freundschaft fürs Leben - auch zu der Tochter der Müllers, Sabrina und deren Mann Tobias Studen. Nadja war mit ihrer Familie sogar bei der Hochzeit der Studens.

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Doch das ist nur noch eine Erinnerung an eine friedliche Zeit. Jetzt herrscht Krieg. Die Müllers bitten zu sich herein. Es gibt Kaffee und belegte Brötchen. Dafür hat Svitlana May keine Zeit. Sie hat die Reise der Familie von der polnisch-ukrainischen Grenze nach Medelon organisiert. Unermüdlich setzt sie sich dafür ein, Hilfsgüter in ihr Heimatland zu transportieren. Josef Müller hatte von ihrem Engagement gehört. Deshalb hatte er sie kontaktiert und sie gebeten, die Familie an der Grenze mitzunehmen - was gelang.

In Sicherheit und bei Freunden. Nadja Polonska (rechts) ist mir ihrer Mutter Ludmilla (2.v.r.) und ihren Töchtern Victoria (3. v.r) und Varia (4.v.r.) vor dem Krieg in der Ukraine ins Sauerland geflohen.
In Sicherheit und bei Freunden. Nadja Polonska (rechts) ist mir ihrer Mutter Ludmilla (2.v.r.) und ihren Töchtern Victoria (3. v.r) und Varia (4.v.r.) vor dem Krieg in der Ukraine ins Sauerland geflohen. © WP | Benedikt Schülter

Angst um die eigene Familie im Kriegsgebiet

Ständig klingelt ihr Telefon. Mal auf Ukrainisch mal auf Deutsch führt sie die Gespräche. Petro Rushak steht neben ihr. Der Fahrer sieht müde und abgekämpft aus. Es sind Tage des Bangens für ihn. May übersetzt. Der Ukrainer fährt eigentlich Landsleute zur Arbeit nach Deutschland oder den Niederlanden. Als Putin angriff, war er wegen eines Jobs außerhalb seines Landes. Als er über seine Frau und sein siebenjähriges Kind sprechen will, die immer noch im Kriegsgebiet sind, wird seine Stimme brüchig, seine Augen feucht. Er muss das Gespräch abbrechen.

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May dagegen kann sprechen. Ihre Wut, ihre Angst zum Ausdruck bringen. Denn auch sie hat noch Verwandtschaft in der Ukraine, sagt sie. „Wissen sie, was es bedeutet, wenn man sich am Telefon von seinen Liebsten verabschiedet und nicht weiß, ob das vielleicht das letzte Mal war?“, sagt sie. Die Situation in ihrer Heimat sei schrecklich und das mitten in Europa. Sie halte ständigen Kontakt in die Ukraine. „Manche Städte dort sind komplett zerstört“, sagt sie. Sie sei aber den Deutschen wegen der deren Hilfsbereitschaft sehr dankbar. „Gott sei Dank ist Deutschland für uns da“, sagt May. Dann steigt sie wieder in ihr Auto. Gleich wird wieder einen Hilfstransport an die Grenze geschickt. Und natürlich ist May dabei.

27.02.2022, Ukraine, Kiew: Rauch steigt am Montagmorgen über dem Teil der ukrainischen Hauptstadt Kiew auf, der am rechten Ufer des Dnipro liegt. Russische Truppen haben den erwarteten Angriff auf die Ukraine gestartet und drangen in die Hauptstadt vor.
27.02.2022, Ukraine, Kiew: Rauch steigt am Montagmorgen über dem Teil der ukrainischen Hauptstadt Kiew auf, der am rechten Ufer des Dnipro liegt. Russische Truppen haben den erwarteten Angriff auf die Ukraine gestartet und drangen in die Hauptstadt vor. © dpa | Unbekannt

Der Angriff der Russen kam überraschend

Dagegen braucht Rushak etwas Ruhe. Müde setzt er sich in die Küche der Müllers. Doch um ihn herum tobt das Leben. Die Kinder von Nadja Polonska spielen. Es wird viel gelacht und gescherzt. Die Erleichterung, hier sein zu dürfen, ist groß. Polonska lächelt. „Wir haben unfassbares Glück gehabt“, sagt sie. Doch die Sorge um ihren Mann bleibe. Der musste nämlich in der Heimat bleiben und ist bei einem Freund untergekommen. Die Ukraine lässt nämlich keinen Mann im wehrfähigen Alter über die Grenze. „Ich habe ihm verboten zu kämpfen, obwohl er eigentlich kämpfen will“, sagt sie und lacht so, als verdränge sie gerade die ganze Tragweite und Auswirkungen, die der Konflikt auf ihre eigene Familie hat.

Ausharren im kalten, nassen und stinkenden Keller

Vom Angriff seien sie und viele andere Ukrainer überrascht worden. Am 24 Februar wurden die Polonskas gegen fünf Uhr morgens von einem lauten Knall geweckt. „Wir hätten niemals gedacht, dass Putin Kiew angreift. Den Osten ja, aber doch nicht Kiew! Warum Kiew?“, sagt Polonska. Von da an seien sie immer wieder in einem kalten, nassen und stinkenden Keller geflohen, um sich vor den Bomben und Raketen, die auf die ukrainische Hauptstadt niederprasselten, zu schützen. Schnell haben man sich dann nach einen Tag Kriegshölle entschieden: „Wir müssen hier weg“, sagt Polonska und streichelt zärtlich den Hund der Müllers, den sie in ihren Armen wiegt.

 Blick auf durch den Beschuss der russischen Armee zerstörte Häuser in der Nordukraine.
Blick auf durch den Beschuss der russischen Armee zerstörte Häuser in der Nordukraine. © dpa | Unbekannt

Lange Staus und Panzer auf der Straße

Doch die Flucht sei nicht einfach gewesen. Fast zwei Tage lang hätten sie auf dem Weg zur polnisch-ukrainischen Grenze in einem 60 Kilometer langen Stau gestanden. Auf der anderen Seite der Straße kamen ihnen Panzer und Militärfahrzeuge der ukrainischen Armee entgegen. Es sei nichts vorangegangen. Viele Menschen hätten einfach ihr Auto verlassen und zu Fuß geflüchtet. Da Polonska ihre 71-jährige Mutter dabei hatte, war dies für die Familie aber keine Option. Zum Glück sei ihren Kindern die gefährliche Situation nicht so bewusst gewesen. Victoria und Varia hätten die Flucht eher als Abenteuer begriffen, berichtet Varia.

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Schließlich hätten sie es dennoch zur Grenze geschafft. Auf dem letzten Stück habe sie sogar noch ein Bus umsonst mitgenommen. Keine Selbstverständlichkeit. Denn manche Fahrer hätten dafür extra Geld verlangt - Kriegsgewinnler. Polonska schaut sich in der Küche der Müllers um. Sie sei unglaublich dankbar für die Unterstützung. Natürlich bleibe jetzt die Sorge um ihren Mann. Außerdem wisse sie nicht, ob ihr Haus in Kiew noch stehen würde. Deshalb versuche sie jetzt Kontakt in ihre Heimat aufzunehmen. Und dabei nie ihre positive Lebenseinstellung aufgeben. Denn es gebe Hoffnung. Davon ist sie überzeugt. Viele ihrer Landsleute würden sich den russischen Invasoren nun entgegenstellen. „Wir Ukrainer können gewinnen“, sagt sie.