Berlin. Der Besuch bei den Eltern bereitet Bauchschmerzen? Eine Therapeutin erklärt, welche sogenannten Red Flags es in der Familie gibt.
Wer etwas Zeit auf sozialen Medien verbringt, wird an einem Begriff in den letzten Jahren nicht vorbeigekommen sein: Red Flags. Häufig geht es dabei um Warnzeichen bei der Partnersuche – aber auch innerhalb von Familien gibt es Verhaltensmuster, bei denen Sie genauer hinschauen sollten. Myrna Ritter arbeitet als systemische Therapeutin in Essen und ist unter anderem auf Familientherapien spezialisiert. Im Interview erzählt sie, wann Ihre Alarmglocken läuten sollten und wie man es schafft, sich aus ungesunden Familienstrukturen zu befreien.
Frau Ritter, bei welchen Familiendynamiken klingeln Ihre Alarmglocken?
Myrna Ritter: Wenn gezogene Grenzen nicht wahrgenommen werden. Zum Beispiel, wenn sich Eltern in die Liebesbeziehung ihrer Kinder einmischen und die Partnerwahl kritisieren. Da gibt es einen schmalen Grat zwischen: Ich respektiere die Grenzen meines erwachsenen Kindes und ich mische mich ein, weil meine Alarmglocken läuten. Auch, wenn sich jemand nur für sich selbst interessiert, nie wissen möchte, wie es dem anderen geht und Themen immer wieder umgelenkt werden, damit die Person von sich selbst erzählen kann, sollte man wachsam sein.
Ich arbeite gerne mit dem Begriff Warnzeichen. Und die sind immer dann gegeben, wenn ich mich in der Gegenwart von jemand anderem kleiner oder nicht wertgeschätzt fühle. Wenn ich den Eindruck bekomme, dass alles, was ich sage, grundsätzlich verkehrt ist und selbst Erfolge abgetan werden. Gewalt – verbal, emotional und körperlich – ist ebenfalls ein No-Go. Dazu zählt auch emotionale Erpressung in Form von Sätzen wie: „Wenn du nicht Jura studierst, brauchst du diese Türschwelle nicht mehr übertreten“.
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Was macht es mit unserem erwachsenen Ich, ständig von unseren Eltern kritisiert zu werden?
Ritter: Wenn ich ständig von meinen Eltern kritisiert werde, bin ich das vermutlich gewohnt. Das heißt, es fällt mir vielleicht gar nicht auf, weil meine Eltern schon immer so mit mir gesprochen haben. Womöglich habe ich mich in ihrer Gegenwart schon immer wie das unmündige, kleine Kind gefühlt, das nichts gebacken kriegt, weil ich in ihrer Gegenwart total tollpatschig werde oder mich ständig verhaspel. Festzustellen, dass es in anderen Kontexten anders ist, ist die erste Erkenntnis.
Die Erkenntnis: Ich bin nicht, was meine Eltern von mir glauben, sondern ich bin, was meine Eltern von mir glauben, im Kontext mit meinen Eltern. Sich davon freizustrampeln, ist eine schwierige Aufgabe, die im besten Fall unter Begleitung eines Therapeuten oder einer Therapeutin stattfindet.
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Wie kann man sich aus dieser Dynamik befreien?
Ritter: Wir haben ganz häufig einen Aha-Moment. Aha, meine Eltern kritisieren mich am laufenden Band und das tut mir nicht gut. Dann wäre es schön, wenn es ausreichen würde zu sagen: Ich habe das erkannt und ich will das so nicht mehr. Ich sage jetzt meinen Eltern, sie sollen es lassen – und die lassen das dann auch. Das wäre die schönste Hollywood-Geschichte. Realistisch ist das leider nicht. Zum einen, weil wir über Jahrzehnte Muster aufgebaut haben, zum anderen, weil unsere Eltern ja einen vermeintlich guten Grund haben, warum sie das tun.
Viele Menschen kritisieren andere oder machen sie unbewusst klein mit der Idee, dem anderen etwas Gutes zu tun. Das führt in der Regel jedoch nicht dazu, dass sich das Kind mehr anstrengt, um ihnen das Gegenteil zu beweisen, sondern dazu, dass es die Kritik auf sein Selbstbild adaptiert und denkt: Ich bin halt dumm. Und selbst wenn es sein Verhalten ändert, hat das weniger mit einem Lernprozess zu tun als mit der Angst, wieder beschämt zu werden.
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Was kann ich tun, wenn ich feststelle, dass es mir nach einem Besuch bei meinen Eltern meist schlechter geht als vorher?
Ritter: Ich kann zum Beispiel gucken, was ich brauche, damit ihre Kritik etwas an mir abprallen kann. Ich kann mir einen imaginativen Schutzmantel umlegen, wenn ich zu meinen Eltern gehe. Mir vorher und nachher klarmachen, welche Fähigkeiten ich habe. Natürlich wäre es großartig, wenn ich das Gespräch mit meinen Eltern führen könnte, indem ich sage: Mir ist aufgefallen, dass ihr mich oft kritisiert. Ich gehe davon aus, dass ihr gute Gründe dafür habt. Ihr wollt mein Bestes, das weiß ich. Trotzdem fühlt es sich ganz anders an. Es fühlt sich nicht gut an, ich fühle mich kleingemacht und als ob ich ein Vollidiot wäre. Können wir einen anderen Umgang finden? Auch hier kann es hilfreich sein, einen Therapeuten oder eine Therapeutin zurate zu ziehen, da wir alle – sowohl Eltern als auch Kinder – in Mustern feststecken, die wir allein nur schwer durchbrechen können.
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Was könnte das für ein Umgang sein?
Ritter: Statt zu bewerten oder zu urteilen, wäre es hilfreicher, mit Neugier an die Sache ranzugehen. Statt direkt zu kritisieren, könnten Sie sagen: Du hast das so und so gemacht, magst du mir erzählen, wieso? Dann ist es nicht gleich verurteilend. Es geht darum, sich erst mal selbst zu sagen: Ich nehme an, dass mein Kind einen guten Grund hat, sich so zu verhalten. Wenn ich verstanden habe, dass jeder Mensch gute Gründe für sein Verhalten hat, macht es einen riesigen Unterschied. Wenn wir den Kontext nicht kennen, stecken wir bestimmte Verhaltensweisen sofort in Schubladen und bewerten sie.
Hier ein Beispiel: Wenn jemand in Kniestrümpfen und Fußballtrikot mit einer Trillerpfeife auf einer Kreuzung herumlaufen würde und dabei gelbe und rote Karten zückt, würden wir denken, er sei verrückt. Steht er hingegen auf dem Fußballfeld, finden wir das total schlüssig. Das ist natürlich sehr plakativ. Trotzdem: Wenn wir nicht alle Komponenten kennen – wieso, weshalb, warum jemand so entschieden hat, ist es leicht, von außen zu verurteilen. Und das ist nicht gerecht. Erst, wenn ich weiß, welche vermeintlich guten Gründe es dafür gab, kann ich die Situation nachvollziehen. In so ein Gespräch mit seinen Eltern zu kommen, ist natürlich eine große Kunst. Und je nach Familienkonstellationen womöglich sogar unmöglich. Dann gilt es zu überlegen, wie und ob ein Kontakt weiterhin funktionieren kann.
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