Berlin. Die Zahl der Gewalttaten in Partnerschaften oder Familien ist auf einem Höchststand. Viele Betroffene schweigen – und werden übersehen.
Die Nachricht an die Frau ist beängstigend. Der Mann sei auf dem Weg im Auto, er komme „um sie und die Tochter zu erschießen“. Er habe sich von einem Kumpel eine „Knarre“ geliehen. Der Mann hat getrunken, sei „bekifft“. Um kurz vor halb elf Uhr nachts rufen Frau und Tochter den Notruf der Polizei. Der Fall ist brisant, landet schließlich vor Gericht. Doch Gewalt und Drohungen gegen Frauen durch ihre Partner oder frühere Partner bleibt oft unentdeckt, unbeachtet von Polizei und Nachbarschaft.
Noch nie registrierte die Polizei mehr häusliche Gewalt in Deutschland, 432 Übergriffe von Partnern ermittelten die Beamten im vergangenen Jahr – pro Tag. Meist sind es einfache Körperverletzungen, Nötigungen, aber auch in einigen Fällen sexueller Missbrauch bis hin zu Tötungsdelikten.
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„Es geht aber auch um psychische Gewalt, Stalking und psychischen Terror“, sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der Vorstellung des ersten Lagebilds zu häuslicher Gewalt. Vier von fünf Geschädigten sind Frauen, die meisten Täter sind Männer. Die Hälfte der Opfer lebte mit dem Täter in einem gemeinsamen Haushalt.
Gewalt in der Partnerschaft: Das Dunkelfeld ist groß
Und doch sind die mehr als 240.000 betroffenen Menschen nur das, was die Polizei „Hellfeld“ nennt. Also Betroffene, die Gewalt bei der Polizei anzeigen. Das „Dunkelfeld“ aber liegt nach Einschätzungen noch viel höher. Menschen zeigen Übergriffe von ihrem Partner oder Ex-Partner nicht an: aus Scham, aus Angst, oder weil sie kein Vertrauen in die Polizei haben. Weil sie Sorge haben, ihr Kind in der Ehe zu verlieren.
Oder weil sie nicht wissen, wie sie allein im Leben zurechtkommen sollen. „Oft sind Kinder bei Gewalt zwischen Partnern mitbetroffen, können ein Leben lang unter den Folgen einer Traumatisierung leiden“, sagt Familienministerin Lisa Paus (Grüne). Zwei Drittel der Betroffenen von schwerer Gewalt gehen demnach nicht zur Polizei.
Wie erkennt man Betroffene von häuslicher Gewalt?
Es sind nicht nur blaue Flecken oder Verletzungen im Gesicht oder an Armen, an denen Freunde und Nachbarn, aber auch Arbeitskollegen Betroffene von häuslicher Gewalt erkennen können. Fachstellen heben hervor, dass sich das Verhalten von Opfern durch Schläge oder auch Drohungen des Partners zuhause stark ändern kann.
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Oft wirken die Opfer ängstlich, verschüchtert, meiden Blickkontakt oder haben sogar Panikattacken. „Wenn sich ein Mensch zurückzieht, sich sozial isoliert und Verabredungen absagt, kann das ein Hinweis auf körperliche oder psychische Gewalt zuhause sein“, sagt Petra Söchting, Leiterin des Hilfetelefons. Ein weiteres Warnsignal kann laut einem Leitfaden der Arbeiterwohlfahrt (AWO) sein, wenn Frauen keine eigenen Entscheidungen treffen und immer zuerst Rücksprache mit ihrem Partner halten müssen.
Wichtig ist nach Ansicht von Hilfsorganisation auch, aufmerksam für Widersprüche zu sein. Hat eine betroffene Frau Verletzungen, aber klingen die Erklärungen dafür unlogisch oder wenig plausibel, kann das ein Hinweis auf Gewalterfahrungen sein. Auch häufige Arztbesuche können Indizien sein. Das Problem für Außenstehende ist: Es gibt eine Vielzahl von Hinweisen – das macht ein Erkennen der Gewalt nicht einfacher. Auch die Kinder von betroffenen Frauen oder Männer können sich in der Kita oder der Schule auffällig verhalten, Angst äußern.
Ratschlag an Nachbarn: „Achten Sie auf kleine Verletzungen“
Fachleute heben hervor, wie wichtig das Vertrauensverhältnis ist. Heike Herold, Geschäftsführerin von Frauenhauskoordinierung e.V., sagt: „Für das Umfeld gilt generell: Hören und schauen Sie genau hin. Wonach hören sich die Geräusche in der Nachbarwohnung an? Passiert so etwas öfter? Achten Sie auf kleine Verletzungen und bestimmte Warnsignale.“
Das gilt nicht nur für die Familie, Freunde und Nachbarn, sondern auch für die Arbeitsstelle. „Bekommen Sie als Kollegin mit, dass eine Mitarbeiterin sich von ihrem Mann getrennt hat und trotzdem immer wieder E-Mails und Nachrichten bekommt, oder sogar der Mann die Frau an der Arbeitsstelle aufsucht, kann das ein Hinweis sein“, sagt Söchting vom Hilfetelefon.
Was können Betroffene von häuslicher Gewalt tun?
Die Antwort der Fachwelt ist eindeutig: Opfer von Gewalt zuhause sollen sich Hilfe suchen – entweder beim Hilfetelefon oder einer anderen Organisation. Das Bundesfamilienministerium hat eine Liste mit Vereinen erstellt. An diese Stellen können sich auch Verwandte, Arbeitskollegen und Freunde von Betroffenen wenden, wenn sie nicht wissen, wie sie der Freundin oder der Kollegin helfen können.
Auch die Polizei ist Ansprechpartner. „Wir brauchen ein funktionierendes und dichteres Hilfesystem. Justiz und Jugendämter benötigen ausreichenden personelle und finanzielle Ressourcen“, sagte Christiane Feichtmeier von Bundesfrauengruppe der Gewerkschaft der Polizei (GdP) unserer Redaktion. Nicht zuletzt würden von Gewalt betroffene Frauen genügend Schutzräume und Zugänge zu Wohnungen benötigen, „deren Mieten zu stemmen sind“, so Feichtmeier.
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Und doch zeigen Befragungen: Viele Frauen haben Angst, sich an die Polizei zu wenden – auch weil sie nicht wissen, wie ihr Partner reagiert und wie sich ein Ermittlungsverfahren auf das Sorgerecht für das Kind auswirkt. Und: Betroffene wollen die Gewalt nicht wahrhaben, verharmlosen Übergriffe als „einmalige Ausrutscher“, sehen die Mitschuld an einer gescheiterten Beziehung sogar bei sich selbst. Wichtig ist laut Söchting deshalb vor allem: Jede Hilfe sollte mit der Betroffenen abgesprochen sein.