Berlin. Die Ernährungstherapeutin Isabel Bersenkowitsch sagt: Diäten sind gefährlich. Nur wer isst, worauf sie oder er Lust hat, lebt gesund.

Die Supermarktregale sind gerade voll mit Spekulatius und Lebkuchen. Doch viele plagt schon beim Anblick das schlechte Gewissen. Studien zufolge ist ungefähr die Hälfte aller deutschen Frauen unzufrieden mit ihrem Gewicht.

Essen, besonders wenn es um „energiereiche Lebensmittel“ wie Süßes oder Fast Food geht, ist mit entsprechend viel Scham und Schuldgefühlen verbunden. Dass der Genuss dabei auf der Strecke bleibt, findet die Diätologin Isabel Bersenkowitsch aus Wien gefährlich. Im Interview erzählt sie, warum der BMI keine Aussagekraft über die Gesundheit hat und warum es okay ist, Fertigprodukte zu essen.

Sie sagen, Diäten seien sozial akzeptierte Essstörungen. Inwiefern?

Isabel Bersenkowitsch: Natürlich sind Essstörungen komplexer, aber das Verhalten ist sehr ähnlich: Man denkt die ganze Zeit an Essen, entwickelt Heißhunger, man nimmt viel Gewicht ab und wieder zu, man teilt Lebensmittel in gut und schlecht ein, fühlt sich schuldig, wenn man „schlechte“ Lebensmittel isst. Bei dünnen Menschen tolerieren wir so ein gestörtes Essverhalten nicht, aber bei dicken Menschen loben wir, ja, empfehlen es sogar.

Welchen Schaden richten Diäten an?

Bersenkowitsch: Immer wieder ab- und zuzunehmen erhöht unabhängig vom Körpergewicht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfälle. Hunger und Sättigung werden gestört, weil der Körper durch die Regulation von außen aufhört, Signale zu senden. Der Selbstwert leidet massiv. Auch aus gesellschaftlicher Sicht sind Diäten problematisch: Wenn sich Frauen permanent damit beschäftigen, wie sie aussehen und was sie essen, können sie ihre Potenziale nicht ausschöpfen. Wer profitiert? Das Patriarchat und die Diät-Industrie, die jährlich 420 Milliarden Dollar Umsatz macht. Die beste Kundenbindungsstrategie ist, dass die Programme nie langfristig funktionieren.

Expertin: „Diäten sind nicht nur unwirksam, sondern gesundheitsschädigend“

Wie können Sie da so sicher sein?

Bersenkowitsch: Die wissenschaftliche Datenlage ist eindeutig: Diäten sind nicht nur unwirksam, sondern gesundheitsschädigend. Wenn es nach mir ginge, würden alle Abnehm-Produkte verboten werden. Es heißt immer: „wirksam und wissenschaftlich belegt“, aber die Studien gehen nie über fünf Jahre. Und wir wissen, dass fast kein Diät-Erfolg über diesen Zeitraum anhält.

Aber eine dauerhafte Ernährungsumstellung schon, oder?

Bersenkowitsch: Selbst das ist schwierig. Statt zu versuchen, das Körpergewicht zu senken, sollte man lieber Ursachenforschung betreiben. Nicht selten ist das Gewicht ein Symptom, hinter dem eine Ess- oder Emotionsregulationsstörung steckt. Davon abgesehen gibt es auch einfach größere Körper, deren Sollgewicht höher ist als das, was der BMI als normal beschreiben würde.

Die Ernährungsexpertin rät von Diäten und Abnehm-Produkten ab (Symbolbild).
Die Ernährungsexpertin rät von Diäten und Abnehm-Produkten ab (Symbolbild). © Shutterstock / Ljupco Smokovski | Ljupco Smokovski

Bersenkowitsch: „Schon der Begriff Übergewicht ist schwierig“

Heißt: Man kann auch mit Übergewicht gesund sein?

Bersenkowitsch: Schon der Begriff Übergewicht ist schwierig. Das wird ja durch den BMI definiert. Der Body-Mass-Index ist 1830 von einem Mathematiker entwickelt worden, die Studienteilnehmer waren über 5000 weiße, männliche Soldaten. Er hat also keine Aussagekraft für Frauen und Menschen anderer Ethnien und sagt nichts über den Körper aus. Gesundheit ist hochkomplex und nicht das Ergebnis einer Formel, die mit Gewicht und Größe nur zwei Faktoren miteinbezieht.

Wie kann man Gesundheit stattdessen messen?

Bersenkowitsch: Blutwerte sind ein guter Richtwert. Auch die soziale Klasse, in der wir uns bewegen, ist relevant – ein Uni-Abschluss verlängert statistisch gesehen unser Leben, das nennt sich „Status-Syndrom“. Aber es muss mehrere Faktoren geben, an denen man festmacht, ob ein Mensch gesund oder krank ist. In unserem direkten Einfluss liegen Verhaltensweisen – so was wie abwechslungsreich essen, Schlafqualität, Emotionsregulation lernen und Aktivitäten finden, die einem Spaß machen.

Ihr Ernährungskonzept bezieht auch die Psyche mit ein.

Bersenkowitsch: Studien belegen, dass intuitive Esser sich gesünder und abwechslungsreicher ernähren. Darauf baut meine „Ernährungsrevolution“ auf. Wenn Menschen zu Expertinnen für ihren eigenen Körper werden, brauchen sie keine äußere Regulierung, weil ihre innere gut funktioniert.

Ernährung: „Frieden mit dem Essen zu schließen ist eins der wichtigsten Prinzipien“

Und wie wird man zur Expertin?

Bersenkowitsch: Da geht es viel um Körperarbeit und Achtsamkeit. In der Ernährungstherapie besprechen wir zum Beispiel, wie man Hunger noch fühlen kann, außer in der Magengegend: indem die Konzentrationsfähigkeit sinkt, Kreislaufprobleme oder schlechte Laune auftreten. Und die nächste Frage ist: Wie reagiere ich richtig? Nur den Hunger wahrzunehmen ist nicht genug, man muss dann ja auch noch was essen, damit er vergeht und der Körper versorgt wird.

Intuitiv essen bedeutet: Ich kann essen, worauf ich Lust habe, richtig?

Bersenkowitsch: Es gibt zehn Prinzipien des intuitiven Essens. Dazu zählt unter anderem: die Diätmentalität aufgeben, Sättigung kennenlernen, Genuss und Zufriedenheit beim Essen finden, Emotionen regulieren lernen. Frieden mit dem Essen zu schließen ist eins der wichtigsten Prinzipien. Sich bestimmte Lebensmittel zu verbieten, führt nicht dazu, dass man sie weniger isst. Es gibt einen „What the hell“-Effekt: An einem Tag sind Schokolade oder Pizza verfügbar, man erlaubt sie sich kurzfristig, und das Unterbewusstsein denkt: Ui, seltene Gelegenheit, das muss ich jetzt ausnutzen. Und dann isst man umso mehr.

Wer sich Schokolade und Co. verbietet, isst der Expertin zufolge in anderen Momenten umso mehr.
Wer sich Schokolade und Co. verbietet, isst der Expertin zufolge in anderen Momenten umso mehr. © Shutterstock / Storyet | Storyet

Warum auch die Diätologin mal zu Fertigprodukten greift

Wenn man sich alles erlaubt – denkt man dann nicht jeden Tag „What the hell“?

Bersenkowitsch: Erst mal vielleicht schon. Irgendwann tritt ein Gewohnheitseffekt ein. An allem, was ich immer haben kann, verliere ich das Interesse. Dann entstehen Fragen wie: „Wie fühlen sich Lebensmittel in meinem Körper an?“ Man möchte möglichst lange satt und leistungsfähig sein und nach dem Essen nicht in ein Tief fallen. Das eröffnet ganz neue Perspektiven auf Ernährung, wo Abwechslung und die Versorgung mit Nährstoffen zum inneren Bedürfnis werden.

Und dann hat man keine Lust mehr auf Fast Food und Fertiggerichte?

Bersenkowitsch: Wenn ich einen guten Draht zu den Signalen meines Körpers habe, dann merke ich zwar, dass sich frische Lebensmittel in meinem Körper besser anfühlen. Das heißt aber nicht, dass man nie wieder Fast Food essen oder Fertigprodukte verteufeln muss. Auch ich als Diätologin greife manchmal darauf zurück – oft aber auf Kosten des Genussfaktors. Generell gilt: Immer wenn eine Ernährungsform zwanghaft ist, stressig, einengend und sozial einschränkend, dann kann das überhaupt nicht gesund sein. Weil die Beziehung zum Essen genauso ein Teil der gesunden Ernährung ist wie die Wahl der Lebensmittel.

Das ist die Expertin Isabel Bersenkowitsch:

Weg mit den Diäten, zurück zum Bauchgefühl: Mit ihrem Unternehmen Ernährungsrevolution möchte Isabel Bersenkowitsch Menschen dabei helfen, eine gesunde Beziehung zum Essen zu entwickeln. In Vorträgen, Gruppencoachings und individuellen Ernährungstherapien zeigt die Diätologin u. a., wie man das Vertrauen in die eigenen Körpersignale stärkt – ein wichtiger Schritt, um intuitiv zu essen, statt strengen Regeln zu folgen. Weitere Infos unter: ernaehrungsrevolution.at

Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift „Myself“, die wie diese Redaktion zur Funke Mediengruppe gehört.