Essen. Die Landtagswahlen im Osten haben einen dramatischen Rechtsruck gebracht. Wie und warum, das erklärt Psychologin Christine Bauriedl-Schmidt.

Jubel und Euphorie bei der rechtsextremen AfD und dem BSW, Entsetzen und Fassungslosigkeit bei den Ampelparteien: Die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen haben einen drastischen Rechtsruck in den Landesparlamenten bewirkt. In Thüringen ist die AfD mit knapp 33 Prozent stärkste Kraft, in Sachsen mit rund 31 Prozent nur knapp hinter der CDU. Zugleich fuhr die Wagenknecht-Partei in beiden Bundesländern auf Anhieb zweistellige Ergebnisse ein. Die Bildung stabiler und demokratischer Landesregierungen ist eine Herausforderung.

Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus, der Wunsch nach einer ethnisch homogenen „Volksgemeinschaft“ und autoritärer Führung, die Verharmlosung rechtsextremer Verbrechen und Haltungen finden sichtbar eine immer breitere Basis. Die Affäre um Maximilian Krah und seine unsäglichen Aussagen zur SS, die Verurteilungen von Björn Höcke wegen der Verwendung verbotener Nazi-Parolen oder die erschreckende „Remigrations-Konferenz“ in Potsdam – all diese antidemokratischen Skandale scheinen die AfD-Anhänger und -Wähler nicht zu irritieren.

Dabei kommen diese Wahlergebnisse keineswegs überraschend: Schon lange sind rechtsextreme Haltungen kein Kennzeichen einer Randgruppe mehr. Untersuchungen wie die Autoritarismus Studie 2022 zeigen eine Zunahme antidemokratischer Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft.

Landtagswahl Thüringen
Thüringens AfD-Chef Björn Höcke © DPA Images | Jacob Schröter

Zuletzt ergab eine Studie der Uni Leipzig unter 3500 Menschen zum Zustand der Demokratie in Ostdeutschland, dass zwei Drittel der Befragten sich nach autoritären Strukturen und einer Einparteiendiktatur zurücksehnt. Mehr als ein Viertel der Ostdeutschen zeigt sich demnach ausländerfeindlich.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die jüngste „Mitte-Studie“ der Uni Bielefeld, die die politischen Einstellungen bundesweit in den Blick nimmt. Demnach ist der Anteil der Befragten mit klar rechtsextremer Orientierung gegenüber den Vorjahren erheblich angestiegen. „Für komplexe Fragen der Zeit werden vermehrt einfache und autoritäre Lösungen gefordert. Die Zunahme demokratiegefährdender bis zu demokratiefeindlichen Einstellungen spiegelt sich insbesondere in der Herabwürdigung von Minderheiten, der Anfälligkeit für Populismus sowie einem generellen Verschwörungsglauben wider, ebenso wie in der Hinwendung zu rechtsextremen und gewaltbilligenden Positionen“, bilanziert die Untersuchung.

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Warum erstarkt der Rechtsradikalismus in Deutschland? Das ist nicht nur ein politisches oder sozialwissenschaftliches Thema, sondern auch ein psychologisches, sagt Dr. Christine Bauriedl-Schmidt, stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT), im Gespräch mit dieser Redaktion. „In uns allen schlummern Vorurteile“, sagt die Psychotherapeutin und spricht von frühen Ängsten, Abwehrmechanismen und autoritären Strukturen. Wir fragten sie: Wie und warum entwickeln rechtsextreme Ansichten?

Dr. Christine Bauriedl-Schmidt.
Dr. Christine Bauriedl-Schmidt. © HO | Privat

Lassen sich die Ergebnisse der Landtagswahlen auch psychologisch einordnen?

Aus psychologischer Sicht stehen hinter antidemokratischen Haltungen oft unbewusste Abwehrprozesse, um mit den eigenen Ängsten umzugehen. Alles, was als fremd und anders erlebt wird -- seien es Eliten, Migranten, Fremde oder queere Personen – wird abgelehnt und entwertet. Das sind Prozesse, die oft unbewusst ablaufen und die sich auf alle diejenigen richten, die anders aussehen, denken, leben oder aus fremden Kulturen kommen. Mit der Angst wächst zugleich die Sehnsucht, die Kontrolle zurückzugewinnen – und damit auch der Wunsch, dass jemand das wieder richten und Sicherheit bieten soll.

Sie sprechen von Spaltung – was meinen Sie damit?

Die einfache Einteilung der Welt in Gut und Böse, in Fremde und Zugehörige, in Die und Wir, das nennen wir in der Psychologie Spaltung. Das ist ein Abwehrprozess, der die Psyche entlastet, aber gleichzeitig die Möglichkeit schwächt, die Probleme der Realität zu erkennen und zu bewältigen.

Wie erklären Sie die einfache Einteilung in Gut und Böse?

Die Welt ist kompliziert geworden: Krieg, Flucht, Terror, Digitalisierung, Klimawandel. Das führt dazu, dass Menschen sich zurückziehen in ihre Blase und alles außerhalb davon ablehnen. Die Vorstellung, allein zu sein, das Ohne-mich-Gefühl kann zu einer Radikalisierung führen und zur Wahl rechtsextremer Parteien.

Könnte man die vielen Kreuzchen bei der AfD auch als Ruf nach Aufmerksamkeit verstehen? Nach dem Motto: Ich mache jetzt mal etwas Unerhörtes, damit ich gesehen werde?

Es ist nicht auszuschließen, dass es auch um Aufmerksamkeit geht. Viele Menschen in den neuen Bundesländern können sich abgehängt und übergangen fühlen. Sozioökonomische Studien belegen die Schere, die zwischen West- und Ostdeutschland etwa bei den Verdienstmöglichkeiten aufgeht. Wenn man am Wohlstand Deutschlands nicht teilhaben kann, fällt es schwer, stolz sein zu können – und das will man ja. Es ist wie ein Mangel an Liebe, der konkret erlebt wird. Man möchte Sicherheit, Bedeutung und Sinn erfahren. Wenn das nicht erfüllt wird, ist man womöglich eher geneigt, eine radikale Partei zu wählen. Aber das ist kein Automatismus, sondern hängt immer davon ab, welches Angebot die Gesellschaft den Menschen macht.

Besteht denn immer noch ein Graben zwischen Ost und West?

Es gibt auch einen ideologischen Graben. Was ist passiert, als die Mauer fiel? Die Menschen im Osten haben zwei unterschiedliche Diktaturen erlebt. Das Weitermachen nach der Wende hat dazu geführt, dass bestimmte emotionale Lernprozesse nicht erfolgt sind. Denn vieles im vorherigen Leben wurde ja nicht als schlecht, sondern vielmehr als normal oder auch als gut empfunden. Aber die Menschen haben keinen Raum gefunden, Verlust zu verarbeiten und zu betrauern. Der Rechtsruck kann als Wiederkehr des damals Verdrängten interpretiert werden, darin steckt heute viel Wut und autoritäres Denken.

Welche Rolle spielt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe?

In einer Gruppe kann man sich stark und sicher fühlen. Die eigene Gruppe ist gut, alles außerhalb ist schlecht und böse. Es wird nur gedacht und gesagt, was die Gruppe vorgibt, alles andere wird verdrängt. Konflikte in der Gruppe werden verleugnet und nach außen projiziert. Damit ist die Welt wieder einfacher und übersichtlicher. Um diese Fantasie der geeinten Gruppe aufrecht zu erhalten, entsteht ein großer Handlungsdruck, denn für den Zusammenhalt braucht es Feindbilder, die bekämpft werden müssen.

Studien belegen, dass sich rechtsextremistische Ansichten in der Mitte der Gesellschaft etabliert haben. Die AfD reklamiert nach den Landtagswahlen bereits das Etikett Volkspartei für sich. Sind wir letztlich alle gefährdet, radikal zu denken?

Bei jedem Menschen gibt es die Tendenz zur Spaltung. In uns allen schlummern Vorurteile, die in bestimmten Situationen aktiviert werden können. Dem inneren Rassismus kann sich niemand entziehen, etwa wenn man über Personen aufgrund bestimmter Merkmale schlecht denkt, die man gar nicht kennt. Es wird dann problematisch, wenn aus diesem Impuls ein Automatismus wird. Es kommt also darauf an, sich bewusst zu machen, dass diese Gefahr besteht. Wenn zum Beispiel auf Demonstrationen gegen Rechtsextremismus die Parole „Wir hassen die AfD“ skandiert wird, treibt das die Spaltung nur voran.

Warum fühlen sich so viele junge Menschen von rechtsextremen Parteien und Positionen angezogen?

Ja, viele junge Menschen haben radikal gewählt. Wenn zuvor bereits die Erziehung autoritativ war, Rassismus und Diskriminierung unwidersprochen blieben, etwa im Elternhaus, in der Schule oder der Kirche, kann das ein Abdriften in die Radikalisierung begünstigen. Und wenn in einer sensiblen Lebensphase rechtsextreme Gruppen ein Angebot machen und man sich dort aufgehoben und gehört fühlt, ist dies ein weiterer Schritt. Auch Einsamkeit spielt bei Jugendlichen eine Rolle. Viele heute 18- bis 20-Jährige waren in der Pandemie isoliert und entwickelten das Gefühl, dass ihnen die Jugendzeit genommen wurde. Auf dieses Ohne-mich-Gefühl kann Gegenwehr erfolgen.

Ein Demonstrant hält ein Plakat mit der Aufschrift „AfD? Nee” beim Protest gegen den „Bürgerdialog” von AfD-Bundestagsabgeordneten.
Ein Demonstrant hält ein Plakat mit der Aufschrift „AfD? Nee” beim Protest gegen den „Bürgerdialog” von AfD-Bundestagsabgeordneten. © dpa | Christoph Reichwein

Was kann die Psychoanalyse in der politischen Krise helfen?

Die Psychoanalyse kann dazu beitragen, die Wirkungsweise von Abwehrprozessen und Spaltungen zu verstehen, sie kann zum Verständnis gesellschaftlicher Konflikte beitragen. Wenn der Westen sagt, die Leute im Osten sind rechtsextrem, dann übersieht er, dass er zu den Problemen beigetragen hat. Doch ist zu berücksichtigen, dass es sich lediglich um Hypothesen zum Verständnis bestimmter gesellschaftlicher Phänomene handelt. Wenn wir hier über Osten und Westen sprechen, kann schon dies als Spaltung begriffen werden. Um das zu überwinden, braucht es Begegnungen und Gespräche. Ein Vorbild wäre das Format der analytischen Großgruppe wie bei den berühmten „Nazareth-Konferenzen“, die 1994 vom Ehepaar Moses initiiert wurden. Damals trafen sich erstmals nicht-jüdische und jüdische Deutsche und Israelis, um gegenseitige Vorurteile ans Licht zu holen und zu besprechen.

Welchen Rat können Sie der Politik nach den Landtagswahlen geben?

Ich weiß nicht, wie es funktionieren soll, dass sich jetzt demokratische Parteien mit Vertretern extremistischer Positionen, mit denen man zuvor möglichst jede Zusammenarbeit vermieden hat, auf eine Koalition oder Regierungsbildung verständigen sollen. Ich würde mir wünschen, dass die Verhandlungen von Psychologinnen oder Psychologen begleitet werden. In Krisensituationen wird unser Rat von Unternehmen oder Verbänden häufig gesucht. Und die Politik ist in einer Krise, jetzt wäre psychologischer Rat wichtig. Aber das ist wohl eine Utopie.

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