Essen. Vor 50 Jahren gewann das DFB-Team die Fußball-WM. Der Schalker Norbert Nigbur war Ersatztorwart und spricht über seine Erinnerungen.
Es gibt dieses Foto, aufgenommen nach dem Endspiel vom 7. Juli 1974. Auf einem Podium sitzen, verschwitzt und abgekämpft, die deutschen Nationalkicker, die gerade das niederländische Team im WM- Finale von München mit 2:1 niedergerungen haben. In der Mitte Bundestrainer Helmut Schön und Kapitan Franz Beckenbauer mit dem WM-Pokal. Neben den Spielern sieht man Betreuer und Funktionäre. Manche winken den Fotografen zu. Und dann sitzt da links außen, neben dem restlos erschöpften Uli Hoeneß, ein Mann, der mit seinem knallroten Trainingsanzug farblich aus der Riege der Sieger heraussticht: Norbert Nigbur. Der Ersatztorwart im deutschen Team, stand im Finale, wie im gesamten Turnier, im Schatten der unumstrittenen Nummer 1 Sepp Maier. Auch Nigbur, der Mann von Schalke 04, kann sich nun Weltmeister nennen.
„Fußball ist ein Mannschaftssport“, sagt der heute 76-Jährige im Gespräch mit unserer Zeitung, „wer bei einem Titelgewinn zum Aufgebot gehört, der hat auch zum Sieg beigetragen, auch wenn er selbst nicht auf dem Rasen stand.“
Angst vor einem Terroranschlag
Die Geschichte des Endspiels im Münchner Olympiastadion ist so verrückt wie der gesamte Turnierverlauf für die bundesdeutsche Mannschaft. Die Elf um den „Bayern-Block“ Maier-Beckenbauer-Müller, von der die Fans nicht weniger als den Titel erwarteten, tat sich schwer mit der Favoritenrolle. Auf wenig glanzvolle Siege in der Vorrunde gegen Chile und Australien folgte die 0:1-Blamage gegen das Team der DDR.
„Diese Niederlage drückte die Stimmung in der Mannschaft natürlich“, erinnert sich Nigbur. Ohnehin sei das Klima im DFB-Quartier in der Sportschule Malente ein besonderes gewesen. Zwei Jahre nach dem Olympia-Attentat von München war die Furcht vor erneuten Terroranschlägen bei der WM groß. „In Malente war alles von der Polizei abgeriegelt“, erinnert sich Nigbur, „wir Spieler konnten nicht mal einen Spaziergang außerhalb des Geländes machen.“ Aber die Begeisterung der Fans habe sich trotzdem auf die Mannschaft übertragen: „Das Publikum bei unseren Spielen war fantastisch.“
Zumal sich die Elf nach der Pleite gegen die DDR steigerte. In der zweiten Runde folgte auf den 2:0-Sieg gegen Jugoslawien das verrückte Spiel gegen die starken Schweden. Im Dauerregen von Düsseldorf lagen die Deutschen zunächst mit 0:1 zurück, bevor Wolfgang Overath und Rainer Bonhof mit ihren Treffern das Spiel drehten. Doch die Schweden kamen zurück, glichen erneut aus. Erst das 3:2 durch Jürgen Grabowski in der 78. Minute brachte die Erlösung für die Deutschen, Uli Hoeneß’ Elfmetertor kurz vor Abpfiff machte den Deckel drauf.
„Das war für mich ein Gebot der Fairness“
Norbert Nigbur saß auch bei dieser Partie auf der Bank. „Ich hatte damit kein Problem“, erzählt er, „Sepp Maier war als Nummer 1 gesetzt, das war von vorn herein klar. Ich war mit meiner Rolle hundertprozentig zufrieden. Da gab es keinen Neid. Ich hab’ in Malente sogar mit Sepp Maier auf einem Zimmer geschlafen.“ Nur eine Verletzung des Münchners hätte Nigbur in die erste Elf bringen können, aber so etwas wünscht man keinem Mitspieler.
Für Nigbur, der vor der WM nur zweimal für die Nationalelf im Tor gestanden hatte, war es denn auch kein Problem, als Bundestrainer Helmut Schön ihn vor dem Vorrundenspiel gegen Australien fragte, ob er den nominell dritten Keeper im DFB-Team, Wolfgang Kleff von Borussia Mönchengladbach, auch einmal als Ersatzkeeper auf die Bank setzen könne. Nigbur hatte nichts dagegen, sozusagen ins dritte Glied zurückzutreten. „Das war für mich ein Gebot der Fairness“, sagt der heutige Fußball-Rentner, „und der Wolfgang hatte das verdient.“ Danach aber saß nur noch der Schalker Torwart bei den Spielen auf der Bank.
Die „Wasserschlacht“ von Frankfurt
So auch bei der legendären „Wasserschlacht“ im Frankfurter Waldstadion. In der Partie gegen die bis dahin ungeschlagenen Polen ging es um den Einzug ins Endspiel. Ein Wolkenbruch kurz vor dem Spiel hatte den Rasen unbespielbar gemacht. Eine Verlegung kam aufgrund des engen WM-Zeitplans nicht infrage. Die Feuerwehr versuchte verzweifelt, mit dem Einsatz von Walzen und Pumpen, den Platz vom Wasser zu befreien – was allerdings nicht wirklich gelang. Trotzdem entschied sich der österreichische Schiedsrichter Erich Linemayr, das Spiel mit einer halben Stunden Verspätung anzupfeifen.
Was folgte, ist eigentlich kaum als Fußballspiel zu bezeichnen. Ein Kombinationsspiel war kaum möglich, immer wieder blieb der Ball in den riesigen Pfützen auf dem Rasen stecken, worunter besonders die für ihr Kurzpassspiel gefürchteten Polen zu leiden hatten. Uli Hoeneß verschoss einen Elfmeter. Eine Viertelstunde vor Schluss markierte Torjäger Gerd Müller dann den Treffer zum deutschen 1:0-Sieg. Das DFB-Team stand im Finale, den Polen blieb das Spiel um Platz 3 gegen Brasilien – immerhin schlugen sie den entthronten Weltmeister von 1970 mit 1:0.
Freundschaft mit Johan Cruyff
„So ein Finale bei einer Weltmeisterschaft ist natürlich eine riesige Sache“, sagt Norbert Nigbur. Aber man habe gewusst, dass der Gegner Niederlande eine ganz harte Nuss werden würde. Die Holländer spielten unter ihrem Mittelfeld-Regisseur Johan Cruyff einen modernen und begeisternden Fußball. „Ich kannte Cruyff aus meiner Zeit in der Jugend-Nationalmannschaft“, erinnert sich der Schalker Nigbur. Bei einem Turnier im damaligen Jugoslawien hatten die beiden sich kennengelernt und sich danach bei anderen Gelegenheiten wiedergetroffen, etwa bei einem Lehrgang in der Sportschule Duisburg.
Auch während des WM-Turniers in Deutschland habe es einen Kontakt zwischen ihm und Cruyff gegeben, erzählt Nigbur. „Hast du eigentlich keinen holländischen Pass?“, flachste der niederländische Star mit seinem deutschen Kumpel, „wir brauchen noch einen guten Torwart.“ Und für die Ersatzbank sei sein Kumpel Norbert Nigbur doch zu schade. Tatsächlich war die Position des Keepers oft die Schwachstelle im niederländischen Team.
Das Finale begann mit einem Paukenschlag
Das Finale begann mit einem Paukenschlag – von eben jenem Johan Cruyff. Es war noch nicht einmal eine Minute gespielt, da dribbelte sich der Spielmacher in den deutschen Strafraum, wo ihm Uli Hoeneß wenig elegant in die Beine grätschte. Der englische Schiedsrichter John Taylor zeigte sofort auf den Elfmeterpunkt, Johan Neeskens knallte das Leder mit Vollspann in die Maschen. Es stand 1:0 für die Niederlande – bis dahin hatte noch kein deutscher Spieler den Ball auch nur berührt.
Der Rest ist Fußballgeschichte. Auch die Deutschen bekamen ihren Elfmeter, weil der Frankfurter Bernd Hölzenbein bei einem Zweikampf mit Wim Jansen zu Fall kam – ob Foul oder „Schwalbe“, darüber streiten noch heute die Fußballfans. Unstrittig ist das Tor Gerd Müllers, das die Deutschen in Führung brachte. Mit viel Glück und einem starken Torwart Sepp Maier brachte die DFB-Elf das knappe Resultat über die Zeit.
„Mach dich warm, Norbert“
Und einmal sah es für einen Moment so aus, als würde in dem Endspiel auch die Stunde des Norbert Nigbur schlagen. „Der Sepp hatte sich bei einem Zusammenprall mit einem niederländischen Stürmer verletzt und musste auf dem Platz behandelt werden“, so Nigbur. Der Ersatztorwart blickte zum Bundestrainer: „Mach dich warm, Norbert“, habe Helmut Schön gesagt. Nigbur schlüpfte aus dem Trainingsanzug und machte sich bereit. Dann war aber schnell klar, dass Maier doch weiterspielen konnte. Und Norbert Nigbur nahm wieder auf der Ersatzbank Platz.
Was denkt der Gelsenkirchener, wenn er sich heute, 50 Jahre nach dem denkwürdigen Finale, an die Weltmeisterschaft und das Endspiel erinnert? „Mein Traum war es, dabei zu sein. Dieser Traum hat sich erfüllt.“ Und fühlt er sich selbst als Weltmeister? „Jedes Jahr zu meinem Geburtstag“, erzählt er, „bekomme ich Post mit Glückwünschen von der FIFA. So wie alle, die bei einem WM-Sieg im Aufgebot standen.“