Essen.

„International betrachtet“ und in den Augen der Kunstwelt ist der „Palast der Projekte“ von Ilja Kabakov (1933-2023) und seiner Ehefrau Emilia wohl tatsächlich „ein Knaller“, da mag Britta Peters, Chefin der Urbanen Künste Ruhr, wohl recht haben. Das Werk hatte Ende der 90er-Jahre tatsächlich eine Tournee um die halbe Welt hinter sich. Rein finanziell aber muss man das sieben Meter hohe und 23 Meter breite Großkunstwerk im Salzlager der Essener Welterbe-Zeche Zollverein wohl als eine Investitionsruine betrachten. Für drei Millionen Euro kaufte die NRW-Landesregierung das Werk 2001 an, weitere drei Millionen waren fällig für die Erweiterung des Salzlagers, damit der „Palast“ aus Holzlatten und semitransparenter Hülle überhaupt in die Industrieruine hineinpasste. Und das mit dem „Knaller“ wollte sich im Ruhrgebiet partout nicht herumsprechen, zuletzt wurden die Öffnungszeiten auf das Wochenende beschränkt. Unter der Woche kam eh niemand.

Der schneckenartig gewundene Kabakov-„Palast“ enthält 61 Arbeiten mit utopischem Gehalt: Vorschläge, wie jede(r) Einzelne zu einem besseren Menschen werden könnte, aber auch Ideen zur Umgestaltung von Gesellschaften. Diesen Geist nehmen nun ein gutes Dutzend Kunstwerke einer neuen Ausstellung der Urbanen Künste Ruhr für die am Freitag anlaufende Ruhrtriennale auf: „Fortgesetzte“ oder „Weitergehende Vergangenheit“, so eine freie Übersetzung des englischen Ausstellungstitels, bietet vor allem Kunst mit osteuropäischen Wurzeln mit Schwerpunkt auf der Ukraine.

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Begrüßt wird das Publikum vor dem Salzlager von der Rekonstruktion einer futuristisch-rostigen Weltraumkugel auf einem Schienenwagen mit 2,40 Metern Durchmesser. Der ukrainisch-sowjetische Künstler Fedir Tetianych“ hat sie einst für die ukrainische Eisenbahnstadt Popasna entworfen. „Popasna gibt es heute nicht mehr, die russische Armee hat die Stadt dem Erdboden gleichgemacht“, sagt Nikita Kadan. Der Künstler hat zwei Wände im Salzlager mit Erinnerungen an das Stadtmuseum von Popasna und an Tetianychs optimistische Skulptur gefüllt. Ihre Rekonstruktion ist der sichtbarste Ausdruck einer fortgesetzten Vergangenheit – und Kadans Installation eine Erinnerung daran, dass auch ein Geschichtsmuseum letztlich für die Zukunft gedacht ist.

Essen - Landscapes of an Ongoing Past
Der Künstler Nikita Kadan mit einem Modell von Fedir Tetianychs Weltraum-Kugel. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

„Landscapes of an Ongoing Past“: Film-Installation von Yuri Yefanov im Kunstblumen-Kleingarten

Ironisch-utopisch dagegen die Installation des ukrainischen Filmemachers Yuri Yefanov, der zwei Gartenbänke in ein Geviert aus Kunstblumen gestellt hat. Davor: Drei Monitore, auf denen noch künstlichere Welten in noch künstlicheren Farben eine grellschöne Harmonie verkörpern: Ein futuristischer Wald (als wild-freier Gegensatz zum menschlich dirigierten Garten) voller bizarrer Wesen im friedlichen Miteinander. Der ironische Titel des Werks: „Wir werden ganz sicher darüber reden, sobald der letzte Luftalarm aufhört“.

Aber längst nicht alle Werke funktionieren so voraussetzungslos wie Yefanovs Video-Installation. Draußen vor der Tür steht noch eine zweite Skulptur, die „Handgreifliche Utopie“ von Marta Dyachenko. Ein Name, der Kunstfans im Revier vertraut sein könnte, weil die hoch kunstvolle Betongießerin, die mit 14 Jahren im Gefolge ihrer Mutter von Kiew nach Berlin auswanderte, zusammen mit Julius von Bismarck 2021 die Installation „Neustadt“ für den Emscherkunstweg im Duisburger Landschaftspark Nord schuf 23 Beton-Miniaturen von Hochhäusern, die seit der Jahrtausendwende im Ruhrgebiet abgerissen wurden. Bei Dyachenkos „Handgreiflicher Utopie“ (die selbstverständlich nicht handgreiflich wird, aber mit Händen zu greifen ist), handelt es sich um ein stilisiertes Schiff, dessen Aufbauten aus zementfreiem, also mit wenig CO2-Freisetzung hergestelltem Beton bestehen – Marta Dyachenko bekam ihn von Fachleuten der ETH in Zürich, wo der Werkstoff gerade erforscht wird. Steuerbord ist auf der Schiffswand die nicht auf den ersten Blick zu erkennende Silhouette einer utopischen „Stadtkrone“ für Hagen (als Raum der Freien und Gleichen, zuletzt zu sehen in der umstrittenen Folkwang-Ausstellung „Wir ist Zukunft“) eingeprägt. Ins Segel eingelassen ist ein künstlerisch bearbeitetes Glasfenster in Anspielung auf Johan Thorn Prikkers Arbeit für den Hauptbahnhof in Hagen: Eine Erinnerung an den utopischen, gesellschaftsverändernden Ansatz des Folkwang-Gedankens von Karl Ernst Osthaus. Und sein Scheitern.

„Landscapes of an Ongoing Past“: Umfangreiches Begleitprogramm

Auch bei Zhanna Kadyrovas Werkreihe „Second Hand“ braucht es viel Wissen um Material und Kontext: An sehr stabilen Bügeln hängen Kleider und ein Schal aus Fliesen. Die wiederum stammen aus einer Seidenfabrik in Kiew. Vielleicht auch ein Bild dafür, dass die Aneignung der Vergangenheit für die Gegenwart manchmal zweck-, aber nicht sinnfrei ist.

Essen - Landscapes of an Ongoing Past
Fliesenkleider von  Zhanna Kadyrova in der Ausstellung „Landscapes of an Ongoing Past“ im Salzlager der Kokerei Zollverein in Essen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

„Landscapes of an Ongoning Past“. 16. August-22. September, Zeche Zollverein, Salzlager, Heinrich-Imig-Straße 11, 45141 Essen. Geöffnet: Mi-So 12-19 Uhr, Eintritt frei. Während der Öffnungszeiten läuft zudem in einem Miniatur-Kino ein Programm aus sieben Filmen in Dauerschleife, die gesellschaftliche Realitäten und Hintergründe der Kunstwerke beleuchten. Außerdem gibt es viele Führungen, Podiumsgespräche und Workshops zur Ausstellung. Programm unter: www.urbanekuensteruhr.de