Essen. Die Songs zur Fußball-EM locken nur bedingt hinter dem Ofen hervor. Wie gut, dass es einen modernen Klassiker gibt, der gute Laune garantiert.

Der Kater hat sich festgelegt. In zwei mächtigen Sätzen springt Siggi die Treppe runter und macht sich aus dem Staub, kaum dass die ersten Beats von „Fire“ seine spitzen Lauscher erreichen. Nein, der offizielle Uefa-Song der Europameisterschaft 2024 trifft den Geschmack des Tieres offenbar in keiner Weise. Und ganz ehrlich: Man kann es verstehen. Die Nummer, eine Gemeinschaftsarbeit des italienischen Dance-Music-Trios Meduza, der Sängerin Leony aus Chammünster in der Oberpfalz (die als Fußballqualifikation immerhin ihren Drittligakickerbruder Korbinian vorzuweisen hat) und des US-amerikanischen Hitproduzenten Ryan Tedder alias OneRepublic, ist eine ordentlich vergurkte Melange aus „Ohoohoohoo“-Chören, Phrasen („We‘re on fire tonight“) und einer nicht besonders griffigen Komposition.

Der einzige Pluspunkt dieser Holzhammerhymne: „Fire“ ist nicht ganz so grausig wie der unmittelbare Vorgänger vom Euro-Turnier 2021, das abgründig unsägliche „We Are The People“ von DJ Martin Garrix mit Bono und The Edge von U2. So schlimm war das Lied, dass man sich fast schon aufs Ende des Turniers freute, um es nicht mehr hören zu müssen. Und das sollte ja nun wirklich nicht der Sinn der Sache sein. Tatsächlich sind diese offiziellen Uefa-Songs so gut wie immer kompletter Quark, ob diejenigen, die‘s singen, nun Enrique Iglesias, Oceana oder David Guetta heißen.

„Força“ von Nelly Furtado ist ein bis heute furios klingender EM-Hit

Glorreiche Ausnahme: „Força“ von Nelly Furtado, einer Kanadierin mit portugiesischen Wurzeln, deren bis heute furios klingender EM-Hit 2004 ein Baustein auf dem Weg zur Weltkarriere („Promiscuous“, „Say It Right“) war. Furtado ist auch diesmal wieder dabei, sie tritt neben Ed Sheeran (im Ernst: Wieso hat der eigentlich nicht den Uefa-Song gemacht?) beim Fanfest in München auf. Und die Wahrscheinlichkeit eines Comebacks für sie ist etwa so groß wie die, dass der halbabgehalfterte Cristiano Ronaldo mit fast 40 ein letztes großes Turnier spielt: nicht riesig, aber man sollte sie noch keinesfalls abschreiben.

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Jenseits der international zu vermarktenden und vielleicht auch deshalb meist so konturlosen offiziellen Beiträge sind die großen Fußballturniere, ob EM oder WM ist egal, auch für die TV-Anstalten willkommene Anlässe, das Publikum mit dieser ganz speziellen Sorte von Haurock-Pop zu beglücken. Ob nun „Tage wie diese“ von den Toten Hosen (EM 2012), „Auf uns“ von Andreas Bourani (WM 2014), „Wir sind groß“ (EM 2016) von Mark Forster oder Wincent Weiss und Johannes Oerding mit „Die guten Zeiten“ (EM 2021) – stets geht es darum, ein großes, gesellschaftliches Gemeinschaftsgefühl auszurufen, das man in der übrigen Zeit ja allem Anschein nach immer vergeblicher sucht.

Auch wieder dabei: Mark Forster, diesmal mit Alphornbläsern

Das Beschreien eines Zusammenhalts – und sei‘s auch nur für vier Wochen oder 90 Minuten plus Nachspielzeit – sowie der Appell ans Kopfausschalten ist auch bei den Fernsehliedern der deutschen Heim-EM zentral. Allerdings, und das ist neu, schleicht sich nun eine seltsame Verzagtheit, eine gewisse Grundverunsicherung mit ein. Besonders deutlich zu hören ist das bei Mark Forsters (ja, er ist schon wieder dabei) „Wenn du mich rufst“-ARD-Song.

Anfangs ist das eine ganz originelle Nummer mit Alphornbläsern aus dem Allgäu und einer Zottelziege im Video, und auch Zeilen wie „Solange wir zusammen sind / Wird alles gut“ bleiben im üblichen Rahmen. Doch insgesamt wirkt das Lied zu introvertiert, zu sorgendurchtränkt, um wirklich zu zünden. Das gilt auch für „glaubst du“, die – warum auch immer – kleingeschriebene ZDF-Kampagnennummer von der Ravensburger Indie-Pop-Band Provinz. Immerhin, nach Überwinden einer Krise (im Songtext wie im Leben) erklärt Sänger Vincent Waizenegger, nun wieder über Euphorie im Bauch und Adrenalin zu verfügen. Zugleich beschwört das Stück auf etwas abgeschmackt wirkende Weise so eine Panini-Heft-Nostalgie-Kindheit aus den frühen Nullerjahren, die aus heutiger Sicht ja geradezu federleicht wirken, es damals aber auch nicht wirklich waren.

Auch die Sportfreunde Stiller mischen wieder ein wenig mit

Bei Ex-The-Voice-of-Germany- und ESC-Vorentscheid-Kandidat Gregor Hägele aus Stuttgart fällt einem auf die Frage „Fühlst du das auch?“ (ARD-Trailer-Song) als ehrliche Antwort nichts Besseres als „Nö, nicht so richtig“ ein. Zumindest katerkompatibel (Siggi und sein Bruder Spike nähern sich miauend dem Schreibtisch, als sie das Lied hören) ist Tim Bendzkos „Komm schon“ (MagentaTV). Das vergleichsweise optimistische Pop-Lied ist auch nicht zwingend titelverdächtig, aber zumindest weniger hadernd und zaudernd als die der Kollegen und mit einer Portion mehr Glaubwürdigkeit ausstaffiert – Bendzko schrieb die Motivationshymne quasi für sich selbst, um für sein Marathontraining in die Hufe zu kommen.

Aus der Vergangenheit winken derweil „Zeit, dass sich was dreht“, nun elektrifiziert vom Berliner Rapper $oho Bani, immerhin in Kollaboration mit dem Originalinterpreten Herbert Grönemeyer. Und selbst die guten alten Sportfreunde Stiller mischen wieder ein wenig mit. Ihr berühmtes, 2006 annähernd in den Stand des kulturellen Nationalheiligtums erhobenes Lied heißt jetzt „72, 80, 96, 2024“. Rumpelt ein bisschen, ist aber nach wie vor charmant. 

EM-Hymne der Herzen: Peter Schillings alter Nummer-Eins-Hit „Major Tom“

„Major Tom“ von Peter Schilling wird bei deutschen EM-Toren in Straßenbahnen gespielt. Der 40 Jahre alte Song könnte EM-Hymne der Herzen werden.
„Major Tom“ von Peter Schilling wird bei deutschen EM-Toren in Straßenbahnen gespielt. Der 40 Jahre alte Song könnte EM-Hymne der Herzen werden. © DPA Images | Lennart Preiss

Wem das alles noch nicht reicht, der kann anfangen, im Netz zu buddeln. Einschlägige Funde sind gewiss. Zwei Nasen namens Aditotoro und Paulomuc erweisen mit „Füllkrug“ gleichnamigem Nationalstürmer sowie der Kunstform des zügigen Bierglasleerens die Ehre. Auch „Junge Baller“ von 6pm Records, Ski Aggu, Haaland936 und Sira zielt voll auf die Freunde gediegener Ballermann-Unterhaltung, gleiches ist von Ex-Fußballer Max Kruse zu erwarten, der sich mit Partyschlagersänger Jens „Knossi“ Knossalla, Pazoo und den englischen Poplegenden Right Said Fred zusammengetan hat, um das bewährte „Stand up for the Champions“ in einer Art Technoversion neu aufleben zu lassen.

Aber ganz egal, wer jetzt noch kommt. EM-Hymne der Herzen dürfte Peter Schillings über vierzig Jahre alter Nummer-eins-Hit „Major Tom“ werden. Seit Linksverteidiger Maximilian Mittelstädt im März gegen die Niederlande traf, wird der Großklassiker nach DFB-Toren gespielt, und das Publikum steht wirklich jedes Mal senkrecht vor Freude. Da die Uefa natürlich keine anderen Torhymnen neben der eigenen duldet (die wiederum aus Versatzstücken von „Fire“ zusammengeschnipselt wurde), wird der „Major Tom“ nur nach Siegen der deutschen Mannschaft gespielt werden. Aber die Menschen in den Stadien werden gewiss nicht um Erlaubnis fragen, was sie singen dürfen. Und so heißt es ab Freitag, immer und immer und immer wieder: „Völlig losgelöst von der Erde/ Schwebt das Raumschiff völlig schwerelos“.

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