Essen. Nach Krimis, Kinderbüchern und Komik melden sich neue Stimmen zu Wort. Warum das Ruhrgebiet an der Spitze des literarischen Fortschritts steht.
Die Ruhrgebietsliteratur hat einen weiten Weg zurückgelegt, aber sie ist heute wieder da angekommen, wo sie vor einem guten halben Jahrhundert schon einmal war: In einer Avantgarde-Position der literarischen Republik.
Anfang der 70er-Jahre wurde die Literatur der Arbeitswelt zu einer mächtig vorandrängenden Bewegung. Angebahnt von Dortmunder „Gruppe 61“, die sich als Opposition zur etablierten, tonangebenden „Gruppe 47“ gegründet hatte, mit dem Dortmunder Bibliotheksdirektor Fritz Hüser, Max von der Grün und dem Gewerkschafter Walter Köpping an der Spitze.
Arbeiter sollten zu Schreibenden werden
Der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“, der sich wiederum in Abgrenzung zur „Gruppe 61“ gegründet hatte und nicht nur die Arbeitswelt zum Thema der Literatur machen wollte, sondern auch die Arbeiter zu Schreibenden, hatte starken Zulauf und produzierte Jahr um Jahr Sammelbände, die sich sogar gut verkauften. Ende der 70er-Jahre war diese Blüte allerdings schon wieder vorbei.
Immerhin hatte man, neben dem dichtenden Bergmann Kurt Küther, in Ilse Kibgis (1928-2015) aus Gelsenkirchen eine echte Lyrikerin, die ihre Erfahrungen und Gedicht-Motive beim Servieren und an der Registrierkasse sammelte.
Auch der erste Literaturpreis Ruhr ging 1986 an eine Frau, die politische Lyrikerin Liselotte Rauner. Als Max von der Grün den Preis zwei Jahre später bekam, war eigentlich schon Schicht im Schacht mit der Literatur der Arbeitswelt. Die neuen Schreib-Felder im Revier wurden die Kinder- und Jugendliteratur (was die Literaturpreise für Inge Meyer-Dietrich, Jürgen Banscherus und Doris Meißner-Johannknecht in den 90er-Jahren belegen) sowie der Krimi.
Das Ruhrgebiet ist die Brutstätte des Regio-Krimis
Und auch hier ehrte der Literaturpreis Ruhr früh einen Könner wie Peter Schmidt, Jürgen Lodemann hatte ihn nicht zuletzt für seine Anita-Drögemöller-Romane um Kommissar Langensiepen erhalten, Karr & Wehner sowie Jörg Juretzka folgten.
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Im Ruhrgebiet wurde der Regionalkrimi quasipraktisch erfunden, der Dortmunder Grafit-Verleger Rutger Booß, einst Lektor beim linken Pahl-Rugenstein Verlag, setzte auf die (politischen) Aufklärungsqualitäten dieser Romane, „Das Ekel von Datteln“ etwa deckte skandalösen Filz auf.
Die nächste Welle nach den Kinderbüchern und den Krimis war die Komik – Frank Goosen als Romancier („Liegen lernen“ etc.) und Fritz Eckenga als ätzender Kurzprosaiker und Lyriker setzten auf diesem Feld Maßstäbe. Immer wieder hob der Literaturpreis Ruhr allerdings auch genuin literarische Autoren wie Michael Klaus oder Ralf Thenior auf den Schild, aber meist hatten sich Kunstmächtige wie Ralf Rothmann oder Brigitte Kronauer längst aus dem Ruhrgebiet verabschiedet und zehrten höchstens noch von ihren Erfahrungen im Revier.
Die Duisburger Literatur-Rebellin Lütfiye Güzel
Aber in jüngster Zeit steht das Ruhrgebiet wieder an der Spitze des literarischen Fortschritts in der Republik. Lange waren Schreiber wie Selim Özdogan und Feridun Zaimoglu die großen Ausnahmen – Literatur von Migranten und ihren Kindern blieb lange Zeit rar – oder unbeachtet wie der Duisburger Erzähler Fakir Baykurt.
Aber seit fast einem Jahrzehnt befindet sich die migrantische Literatur im Revier in einem spürbaren Aufschwung: Den Anfang machte die Duisburger Literatur-Rebellin Lütfiye Güzel, die sich bis heute weigert, bei einem Verlag unter Vertrag zu sein, die ihre Bücher selbst produziert und verschickt.
Sie fand sich plötzlich auf dem Cover des „Zeit“-Magazins wieder und war die erste in einer ganzen Reihe von Autorinnen mit Migrationsgeschichte. Ihr folgten Enis Maci, Mithu Sanyal und zuletzt, in diesem Jahr, die syrische Lyrikerin Lina Atfah, die in Wanne-Eickel lebt. Und mit der Deutsch-Kurdin Karosh Taha gibt es eine weitere veritable Roman-Autorin.
Dinçer Güçyeter gewann den Preis der Leipziger Buchmesse
Migrantische Literatur ist auch im Rest der Republik im Kommen, Dinçer Güçyeter gewann im Frühjahr mit seinem „Deutschlandmärchen“ den Preis der Leipziger Buchmesse, und beim Deutschen Buchpreis, der am Vorabend der Frankfurter Buchmesse vergeben wird, ist Necati Öziri mit seinem „Vatermal“ unter den sechs Finalisten.
Aber im Ruhrgebiet ist die neuere Literatur nicht nur migrantisch, sie ist weiblich (Annika Büsing gewann den Preis 2022!) und, für Literatur-Verhältnisse: jung.