Essen. Nobelpreisträger Jon Fosse ist der meistgespielte Autor Norwegens. Nach Henrik Ibsen. Seine Dramen aus der Mittelschicht sind aber international.
Paare und Familien, Jugendliche und andere Einsame: Jon Fosse ist hierzulande vor allem wegen seiner Theaterstücke ein Begriff, die mit einem überschaubaren Personal und vertrauten Themen auskommen. Noch ist Fosse der berühmteste und meistgespielte norwegische Bühnenautor nach Henrik Ibsen, aber ob ihn der Literatur-Nobelpreis, den ihm die Jury jetzt „für seine innovativen Theaterstücke und Prosa“ zuerkannte, „die dem Unsagbaren eine Stimme geben“, auf die Überholspur bringen wird, steht noch dahin.
Sei frühes Stück „Der Name“ (1995) kam erst fünf Jahre nach der Uraufführung zum ersten Mal in Deutschland auf die Bühne, aber das war auch schon der Durchbruch: Bei „Traum im Herbst“ (1999) dauerte es nur noch drei Jahre. Die deutsche Erstaufführung von „Da kommt noch wer“ (1996) brachte Jürgen Gosch im Düsseldorf auf die Bühne. Mit seinen über 30 Dramen ist Jon Fosse ein weltweit gespielter Theaterautor, von Fernost bis in die USA. Nach Angaben seines norwegischen Verlegers Samlaget weltweit bereits mehr als tausend Mal inszeniert. Was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass seine Stücke die Welt der bürgerlichen Mittelschicht spiegeln, schonungslos und vor allem in der Seelen- und Bewusstseinslage sehr exakt.
Jon Fosse hatte sich vom Theater zunächst ferngehalten
Dabei hat sich Fosse zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn vom Theater eher ferngehalten. Er schrieb zunächst Gedichte, Erzählungen, Essays und sogar Kinderbücher. Doch ein Aufruf von Theaterleuten Ende der 80er-Jahre in Bergen, mit junger Dramatik die eingefahrenen Gleise des Ibsenschen Sozialrealismus zu verlassen, inspirierte ihn zu ersten Theaterarbeiten.
„Der Name“ steht über einem Stück, in dem eine junge schwangere Frau in ihr Elternhaus zurückkehrt, wo sie mit ihrem Freund über den Namen des ungeborenen Kindes streitet, während sich die Eltern, die von ihrem Arbeitsalltag völlig erschöpft sind, hilflos zurückziehen. Die Familie als Keimzelle von Unglück im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert, die zunehmende Zerfaserung des Generationenvertrags, stehen im Mittelpunkt der frühen Stücke Fosses. Es geht um Alltagshelden, Figuren ohne Vergangenheit und Zukunft; ihre Probleme kommen nicht offen ausgesprochen auf den Tisch, sondern lauern stets im Untergrund, hin und wieder platzen sie in die Gegenwart.
Für die Kritik und die Wissenschaft ist Jon Fosse ein Chamäleon
In seiner „Triptychon“-Trilogie aus Erzählungen wiederum brechen eine hochschwangere Frau und ihr Mann bei einer alten Frau ein, nachdem sie nirgendwo eine Herberge fanden, und beladen sich mit Schuld. Um ihren Sohn zu schützen, legen sie sich falsche Namen zu – und als ihre Tarnung auffliegt, entwickelt sich eine fast schon klassische Tragik aus Schuld und Sühne. In Fosses zweitem Roman stecken wir in einer Frau, die sich aus ihrer Wohnung ausgesperrt hat, in der ihr Achtjähriger zurückblieb.
Für die Kritik und die Literaturwissenschaft ist Fosse ein Chamäleon, er hat selbst belustigt registriert, dass er schon als Expressionist, Modernist und Postmoderner bezeichnet wurde und sein Stil als dreckiger Realismus, romantisch, neonaturalistisch oder gar minimalistisch. Das alles stimmt ein bisschen und höchstens in der Summe; diesen Autor auf ein einziges Merkmal zu reduzieren heißt, ihn komplett zu verfehlen. Es ist gerade die Vielschichtigkeit und scheinbar glatten, einfachen Oberflächen, die seine Kunst für die Bühne ausmacht.
Seinen Texten ist sprachkritisches Bewusstsein eingeschrieben, nicht selten sagt das Schweigen, sagen die Pausen mehr als manche Phrase oder all die inhaltsleeren Wiederholungen. Und anders als bei Ibsen sehen wir bei Fosse nicht Ursachen und Wirkungen, sondern Zustände, auf die sich alle selbst einen Reim machen müssen.
Jon Fosse: Zur Person
Jon Fosse, am 29. September 1959 im norwegischen Hausgesund geboren, hat drei Mal geheiratet und sechs Kinder. Nach einer Alkoholvergiftung gab er das Trinken vor einigen Jahren auf. Vor rund zehn Jahren trat er zum Katholizismus über. Seit 2011 lebt er in der „Grotte“, einem Haus am Rand des Osloer Schlossparks, das einst der norwegische Nationaldichter Henrik Wergeland errichten ließ. Heute wird es vom norwegischen Staat finanziert; Fosse genießt dort exklusives, lebenslanges Wohnrecht. Fosse reagierte auf die Ehrung durch die Nobelpreis-Jury „überwältigt und dankbar“, wie er sagte. Da er seit zehn Jahren immer wieder als Anwärter genannt worden sei, habe er sich „mehr oder weniger vorsichtig darauf vorbereitet, dass das passieren kann“. „Aber glauben Sie mir, ich habe nicht erwartet, den Preis heute zu bekommen“, versicherte Fosse.
Der Nobelpreis ist mit elf Millionen Schwedischen Kronen (rund 950.000 Euro) dotiert.