Essen/Castrop-Rauxel. Pflegebetriebe geraten in Schieflage, vor allem kleine Dienste sind betroffen. Eine Unternehmerin spricht über ihren Kampf.
Dann stand da plötzlich dieses Wort: Insolvenz. Seit über 23 Jahren führt Susanne Rosenberger einen Pflegedienst in Castrop-Rauxel. Sie hat ihn mit ihrem Vater gegründet und all die Jahre zu einem Unternehmen mit 40 Beschäftigten, Tagespflege und über 210 pflegebedürftigen Kundinnen und Kunden aufgebaut. Im vergangenen September musste Rosenberger der Realität ins Gesicht blicken: Die Kosten seien zu stark gestiegen, Gelder der Pflegekassen zu spät und in zu geringem Umfang geflossen. „Es gab Tage, da denkt man: Schaffst du das hier noch?“, sagt Rosenberger über die erste Zeit der Insolvenz.
Sie erzählt von Angst und auch Enttäuschung, dass die Pflegebranche zu wenig Hilfe erhalte. Denn Pleiten wie in Castrop-Rauxel sind längst keine Einzelfälle mehr, die Branchenkenner auf individuelle Fehler zurückführen. Sie betreffen inzwischen Hunderte Betriebe. Susanne Rosenberger kämpfte - und ließ sich nicht unterkriegen.
Mitten in der Insolvenzwelle: Arbeitgeberverband warnt vor Versorgungskollaps
„Wir stecken mitten in einer Insolvenzwelle“, sagt Thomas Greiner, Präsident des Arbeitgeberverbands Pflege. „Wenn sich nicht grundlegend etwas ändert, laufen wir auf einen Versorgungskollaps zu.“
Schon jetzt gebe es Angehörige, die zwischen 20 und 50 Pflegeheime abtelefonieren müssten, eh sie einen Platz fänden - es fehlten Angebote. Und diese Situation werde sich verschärfen: „Alte Menschen bekommen keine ambulante Versorgung oder müssen auf einen Heimplatz warten. Angehörige werden also noch mehr gefordert als sie es heute schon sind.“ Seit einem Jahr versuchten die Arbeitgeber, Politik und Pflegekassen für diese Not zu sensibilisieren, so Greiner. „Die machen sich einen schlanken Fuß.“
Es ist ein düsteres Bild, das Greiner zeichnet. Aber er hat Zahlen, die seine Prognose untermauern: Für 2023 hat der Arbeitgeberverband Pflege 810 Insolvenzen und Schließungen in der deutschen Pflegebranche registriert - rein rechnerisch waren an jedem Tag also mindestens zwei ambulante oder stationäre Pflegeangebote von einer Pleite oder dem tatsächlichen Aus betroffen. Die Insolvenzen sind Punkte auf einer bitteren Deutschlandkarte des „Heimsterbens“.
Arbeitgeberverband zählt mindestens 130 Pflegepleiten in NRW
Laut Datenbank sind bundesweit über 150 Heime, Pflegedienste oder Tagespflegen komplett weggebrochen, hinzu kamen knapp 660 Insolvenzen - am häufigsten waren Heime betroffen. Nun muss man wissen, dass es in Deutschland über 11.000 vollstationäre Pflegeheime und mehr als 15.000 Pflegedienste gibt - doch viele von ihnen haben bereits Wartelisten, weil Angebote fehlen. Die Menge an Insolvenzen ist neu: Allein für NRW hat der Verband mindestens 130 Insolvenzen gezählt.
„Weil es keine offizielle Bundesstatistik gibt, haben wir Medienberichte und Bekanntmachungen ausgewertet“, erklärt Greiner. Das Dunkelfeld dürfte sehr viel größer sein. „Wenn ein Heim schließt, sind gleich 100 Bewohner betroffen, das bekommt man mit. Ambulante Pflegedienste sind wesentlich kleiner. Sie sterben leise.“
Insolvenzrisiken: Mieten, Inflation, Tarifplus - aber vor allem der Fachkräftemangel
Das Pleitenrisiko steigt nach Angaben des Arbeitgeberverbandes bei Firmen, die nicht im eigenen Gebäude ansässig sind und mit steigenden Mieten konfrontiert sind. Zugleich drückt die Inflation nicht nur bei Lebensmitteln: Selbst Preise für Inkontinenzmaterialien oder Reinigungsmittel seien enorm gestiegen. Hinzukommen deutlich höhere Personalkosten durch Tarifabschlüsse und Gesetzesänderungen – die Krankenkassen zahlten für die Kostensteigerungen aber nicht ausreichend und nicht schnell genug, so die Klage.
Mehr Informationen rund um das Thema Alten- und Langzeitpflege
- Das Pflegeheim geht pleite: Diese Rechte haben Bewohner
- Heimplätze werden teurer: NRW im Bundesvergleich vorn
- Warum uns die Not der Pflegeheime alarmieren muss
- Täglich zwei Pleiten in der Pflege: „Ich dreh jeden Cent um“
- Bürgen, Kaution, Schuldbeitritt: Was kostet der Heimplatz?
Bei Pflegediensten kommt laut Branche erschwerend hinzu, dass Pflegebedürftige freiwillig auf Leistungen verzichten, die ihnen eigentlich zustehen. So können sie in Zeiten der starken Preisbelastung auf mehr Pflegegeld hoffen. Den Diensten fehlen aber Einnahmen, mit denen sie kalkuliert haben.
Selbst große Träger wie die AWO schließen Pflegedienste
Selbst größere Träger sind von den Nöten betroffen. Die Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Dortmund hat zum Jahresende ihren ambulanten Pflegedienst aufgegeben. Begründet wurde der Schritt damit, dass es massiv an Arbeitskräften und einer auskömmlichen Finanzierung fehle - eine Insolvenz gab es nicht. Der Dienst steckte in einem Dilemma wie viele andere auch. Arbeitskräfte waren kaum zu finden. Leiharbeiter einzusetzen, kann Lohnkosten sogar verdreifachen. Sie nicht einzusetzen, belastet das übrig gebliebe Stammpersonal.
Am Ende sei der wirtschaftliche Betrieb des Dienstes nicht mehr möglich gewesen, hieß es. Die AWO selbst will das Aus nicht mehr kommentieren. Für die rund 40 Kundinnen und Kunden, die der Dienst am Ende noch zählte, seien andere Pflegebetriebe gefunden worden. Auch die zehn Angestellten sind anderswo untergekommen.
Pflegeunternehmerin aus Castrop-Rauxel kämpft sich durch Insolvenz
Von einem glücklicheren Ende nach einer harten Zeit kann Susanne Rosenberger in Castrop-Rauxel erzählen. Auch bei ihr führten mehrere Belastungen zur Insolvenz. „Das Genick gebrochen hat uns das Tariftreuegesetz“, sagt sie. Seit 2022 müssen Pflegeunternehmen nach Tarif oder auf ortsüblichem Tarifniveau bezahlen. Rosenberger findet das auch richtig, sagt, sie habe schon im Jahr 2021 die Gehälter freiwillig angehoben. „Mit der Tariftreue sind die Gehälter von jetzt auf gleich um 30 Prozent gestiegen, die Kassen haben das aber nicht sofort refinanziert, und die Gelder haben die Mehrkosten auch nicht abgedeckt.“ Das kann ein kleiner Familienbetrieb nicht auffangen.
Rosenberger konnte vor Gericht eineInsolvenz in Eigenverwaltung erreichen. Die Geschäftsführung ihres Unternehmens hat sie also nie aus der Hand gegeben, aber einen Insolvenzverwalter an ihre Seite bekommen, der bei der Sanierung hilft. „Ich habe jeden Cent umgedreht“, sagt Rosenberger über die vergangenen drei Monate, in denen jeder Bereich nach Einsparungen durchleuchtet wurde. Dazu gehöre auch, dass nun genauer aufgeschrieben werde, welche Leistungen Pflegekräfte erbracht haben. „In der Pflege hat man ein soziales Herz. Da haben wir früher auch Dinge gemacht, ohne sie aufzuschreiben.“
Die Sanierung sei nun fast abgeschlossen, die schwarzen Zahlen seien nur wenige Wochen entfernt. Rosenberger ist kämpferisch: „Ich lasse mich nicht unterkriegen.“