Duisburg. Keine Chronik, keine Anklage, sondern persönliche Erinnerungen zehn Jahre später: So erlebte unser Reporter die Loveparade-Tragödie in Duisburg.
- Thomas Richter, Redakteur, war am 24. Juli 2010 vor Ort, als sich die Tragödie bei der Loveparade in Duisburg ereignete. In diesem Text berichtet er von seinen persönlichen Erinnerungen an die Katastrophe.
- „Ich hätte auch nach links abbiegen können“, schreibt Richter in seinen Erinnerungen an den Tag der Loveparade-Katastrophe. „Hinein in den Tunnel, jener Stelle, an der das Leben Hunderter Menschen für immer zerstört werden sollte.“
- Bis tief in die Nacht hat Richter an dem Abend Texte zu dem Unglück produziert. „Es ist ein Anschreiben gegen den Schock“, schreibt er und spricht von den schwierigsten Redaktionsstunden.
Und dann kam jener Moment, an dem ich nach rechts abgebogen bin. Nach rechts: weg von der überfüllten Düsseldorfer Straße, hinein in den Böninger Park. Dorthin, wo es während der Loveparade in Duisburg ein bisschen leerer wurde, wo sich nicht mehr Körper an Körper presste.
Ich hätte an diesem 24. Juli 2010 aber auch nach links abbiegen können. Nach links: geradewegs hinein in den Karl-Lehr-Tunnel, dem Eingang zum Loveparade-Gelände, jener Stelle, an der das Leben Hunderter Menschen für immer zerstört werden sollte. Diese so simple und doch alles entscheidende Richtungsentscheidung, sie beschäftigt mich auch heute noch – zehn Jahre nach der Katastrophe.
Erinnerungen an die Loveparade-Katastrophe: „Nur meine persönliche Sicht“
Nein, das hier soll keine allumfassende Chronik dieser tief traurigen und erschütternden Ereignisse sein. Auch keine Anklageschrift über die Fehlentscheidungen, von denen im Vorfeld dieser Techno-Party so unglaublich viele gefällt wurden. Dies hier sind nur meine Erinnerungen, die persönliche Sicht eines Berichterstatters, der ein Weltereignis in seiner Heimatstadt journalistisch begleiten durfte. Dies ist „meine“ Loveparade 2010.
Sie beginnt in den Tagen davor. Genauer gesagt: auf einer Pressekonferenz. Dort stellt der Veranstalter sein Konzept für den Zutritt und das Verlassen des Geländes am alten Güterbahnhof vor. Zahlreiche Journalisten sind im Raum. Zweifel kommen beim Zuhören nicht auf. Kritische Fragen oder Anmerkungen zum Konzept? So gut wie keine! Polizei, Feuerwehr und städtisches Ordnungsamt werden die Planungen ja wohl genauestens geprüft haben, denke ich still und leise vor mich hin, denn sonst würden sie das Ganze ja auch gar nicht genehmigen können.
Loveparade-Katastrophe: „Welch naiver Irrglaube“
Welch naiver Irrglaube!In der WAZ-Lokalredaktion Duisburg bleibt im Vorfeld nicht viel Zeit, um sich akribisch auf diese Großveranstaltung vorzubereiten. Im Sommer des Kulturhauptstadtprojekts „Ruhr.2010“ reiht sich nämlich ein Höhepunkt an den nächsten. Sechs Tage vor der Loveparade hat das „Still-Leben“ auch Zehntausende Duisburger auf die gesperrte A 40 gelockt. Ausführlichst haben wir darüber im Vorfeld und nachbetrachtend berichtet.
Dort kam es an manchen Engpässen ebenfalls zu unangenehmen Menschenaufläufen. Doch die beschwingte und entspannte Grundstimmung sorgte dafür, dass nichts passierte und dass es ein unvergessliches Erlebnis wurde. Im positivsten Sinne.
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Dann also die Loveparade: Meine Redakteurskollegin Annette Kalscheur und ich sollen berichten. Sie vom Jubel und Trubel auf dem Partygelände. Da ich diese basslastige, wummernde Musik nicht sonderlich mag, entscheide ich mich freiwillig, die Rolle des Außenreporters zu übernehmen. Soll heißen: Ich lasse mich im Meer der am Hauptbahnhof angeschwemmten Menschenmassen mittreiben und erkunde die beiden ausgeschilderten Fußrouten zum Veranstaltungsgelände.
Schnell wird an diesem sonnigen Samstag klar: Es ist voll in der Stadt. Rappelvoll. Hier mit Leuten ins Gespräch zu kommen, ist ein Kinderspiel. Denn Techno-Fans sind meistens extrovertiert und auskunftsfreudig. Und so schreibe ich Seite für Seite meines Blockes voll mit Geschichten zu den schrill-bunten Kostümen, zu den Erwartungen und Wünschen der Gäste, die in Duisburg einen Tag mit fetten Beats und faszinierenden Bekanntschaften erleben wollen.
Erinnerungen an die Loveparade: „Hier gibt es Tote!“
Geplant ist eigentlich, dass ich den kompletten Weg mitgehe. Also vom Bahnhof bis auf das Veranstaltungsgelände. Doch an der Kreuzung Düsseldorfer Straße/Karl-Lehr-Straße ist es bei meinem Eintreffen schon so voll, dass es beginnt, unangenehm zu werden. Als Ortskundiger weiß ich, wie ich von dort in den benachbarten Böninger Park gelange.
Und da ich es hasse, nicht mehr „Herr meiner Wege“ zu sein, flüchte ich. Und biege nach rechts ab. Zurück in der Redaktion beginne ich damit, die vielen Stimmen, die ich gesammelt habe, für einen ersten Artikel für die Online-Ausgabe aufzuschreiben, als plötzlich mein Handy klingelt. „Komm sofort zum Tunnel“, höre ich unseren Fotografen Stephan Eickershoff nur sagen: „Hier gibt es Tote!“
Verstört eile ich zurück. Der Presseausweis hilft mir, die zahlreichen Straßensperren zu überwinden. Die hat die Polizei da schon errichtet, um die schier endlos nachströmenden Massen aufzuhalten. Den Tunnel erreiche ich noch. Hinein darf ich nicht mehr. Doch mir kommen Unzählige entgegen, die das Grauen hautnah miterleben mussten.
Loveparade in Duisburg: „Es steht in ihren verhärteten Gesichtern“
Es steht in ihren verhärteten Gesichtern. Einige schluchzen. Andere schauen verstört zu Boden. Nur wenige bringen ein Wort heraus. Alle sind vom Schock gezeichnet. Als Journalist versuche ich in solchen Katastrophen-Momenten zu funktionieren. Um das tun zu können, trage ich seit Jahren – ich mache den Job jetzt seit 1985 – zur Abwehr einen Mentalschild vor mir her. Dieser schützt mich, um auch unerträgliche Situationen wie diese ertragen zu können.
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Ich spreche nur jene an, die auf mich eine Spur von Restfassung ausstrahlen. Das sind nicht viele. Diejenigen, die reden wollen, erzählen von einem Menschengedränge, entsetzlichen Hilfeschreien, lähmender Enge, Panik, Chaos, Verzweiflung, Todesangst. Und dann auch Erleichterung, dort irgendwie lebend rausgekommen zu sein. Ich eile weiter zum Krankenhaus, das in der Nähe liegt, finde auch dort vor der Tür Augenzeugen. Sie liefern mir mit ihren Schilderungen eine Vorstellung davon, was da gerade Fürchterliches geschehen ist.
Erinnerungen an die Loveparade: „Das ganze Ausmaß des Versagens und Wegschauens sollte erst Jahre später ans Licht kommen“
Irgendwann, es ist längst später Abend, erreiche ich wieder die Redaktion. Und schreibe alles auf. Versuche, aus den vielen Schilderungen ein erstes Bild zusammenzusetzen. Das besteht rückblickend betrachtet aber nur aus Fragmenten. Das ganze Ausmaß des Versagens und Wegschauens sollte erst Jahre später ans Licht kommen. Ich bin so fokussiert, dass ich die Tragödie kurz ausblenden kann. Wir produzieren bis in die Nacht Texte, veröffentlichen sie auf unserer Internetseite. Es ist ein Anschreiben gegen den Schock.
Wie ich in dieser Nacht geschlafen habe, weiß ich nicht mehr. Was ich noch genau weiß, ist, dass am frühen Sonntagmorgen nicht nur wir zwei Dienst habenden Redakteure im Büro auftauchen. Sondern auch fast alle anderen Kollegen. Unaufgefordert. Sie halten uns den Rücken frei. Als Zeichen der Solidarität und Hilfsbereitschaft in einer der schwierigsten Redaktionsstunden.
Artikel über Artikel: Fast die gesamte Ausgabe dreht sich um die Loveparade
Und so schreiben wir. Artikel für Artikel. Fast die gesamte Ausgabe füllt dieses eine Thema. Ich schreibe auch über jene unsägliche Pressekonferenz im Rathaus am Tag nach der Katastrophe, bei der vier Menschen auf dem Podium sitzen: Wolfgang Rabe, Sicherheitsdezernent und Leiter des Krisenstabes, Detlef von Schmeling, der stellvertretende Polizeipräsident, Rainer Schaller, Unternehmer und Organisator der Loveparade sowie Duisburgs bis dahin so beliebter Oberbürgermeister Adolf Sauerland. Sie alle tun vor den Augen einer medialen Weltöffentlichkeit das, was in den kommenden Monaten und Jahren noch öfter folgen sollte. Sie ducken sich weg.
Natürlich weiß keiner zu diesem Zeitpunkt, was da genau am Vorabend geschehen war. Fest steht nach den nichtssagenden und empathielosen Statements der Männer hinter den Mikrofonen nur: dass viele junge Menschen den Tod gefunden hatten (am Ende sollten es 21 werden), dass Hunderte andere teils schwerst verletzt waren.
Die Verantwortung für das Geschehene? Nein, die will keiner übernehmen. Nicht mal tröstende Worte des Beileids für die Hinterbliebenen oder des Bedauerns wollen einem der Herren über die Lippen kommen. Es ist zu spüren: Hier geht es allen nur darum, die Verantwortung von der eigenen Person wegschieben zu können. Ein beschämendes Trauerspiel.
Loveparade in Duisburg: Quittung für sein Versagen
Von daher empfinde ich es auch als gerecht, als die Duisburger Sauerland anderthalb Jahre später aus dem Amt wählen – als ersten Oberbürgermeister einer Großstadt in Deutschland überhaupt. Das ist die Quittung für sein Versagen im Umgang mit den Hinterbliebenen, die einen geliebten Menschen verloren hatten und mit der Krisensituation insgesamt.
Seine Abwahl erweist sich als Befreiungsschlag für die Stadt, die unter einem Mantel aus mentalem Mehltau zu ersticken drohte. Die Stadtgesellschaft wirkte paralysiert, wie von einem Kainsmal gezeichnet. Sauerlands Abwahl bringt Frischluft zum Auf- und Durchatmen.
Die Loveparade-Katastrophe ist nun seit zehn Jahren ein unangenehmes, unbequemes, unauslöschliches Stück Stadtgeschichte. Sie wird mit Duisburg immer in Verbindung gebracht werden. Ich habe seitdem mit Eltern gesprochen, die damals ihr Kind verloren haben, mit Verletzten, deren gequetschte Körper bis heute schmerzen, mit Traumatisierten, für die ein geregelter Alltag nur eine unstillbare Sehnsucht bleiben wird. Ich habe es als meine vordringliche Aufgabe als Journalist angesehen, diese Menschen zu Wort kommen zu lassen, damit sie unseren Lesern von ihren Nöten, Ängsten und Traumata erzählen können.
Diese Gespräche halfen auch mir beim Reflektieren, beim Verarbeiten, beim Weiterleben. Ich habe großes Glück gehabt: Ich habe diesen Tag unbeschadet überstanden. Aber doch ertappe ich mich noch heute manchmal bei dem Gedanken, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich damals an dieser Kreuzung meines Lebens nach links abgebogen wäre...
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Podcast zur Loveparade
Am 24. Juli 2020 jährt sich die Loveparade-Tragödie in Duisburg zum zehnten Mal. 21 junge Menschen kamen dabei ums Leben, es gab viele Verletzte und Traumatisierte. Doch wie und warum kam es bei dem Techno-Festival zum tödlichen Gedränge? Wieso wurden die Sicherheitsbedenken ignoriert? Und wie gehen die Betroffenen heute mit dem Erlebten um? Im Podcast „Loveparade 2010 – die Geschichte einer Tragödie“ der Funke Mediengruppe kommt u.a. mit Dr. Motte (60) der einstige Erfinder der Veranstaltung zu Wort – aber auch unser Redakteur Thomas Richter (52), Autor dieser bewusst sehr persönlich gehaltenen Erinnerungen auf dieser Seite.
•Ab dem Jahrestag (24. Juli) erscheinen fünf Folgen.
• Folge 1: Loveparade-Podcast: „Da unten sterben Menschen“
• Folge 2: Wie kam die Loveparade ins Ruhrgebiet?
• Folge 3: Wie und warum ist das Unglück passiert? Wie konnte das genehmigt werden?
• Folge 4: Der Prozess – 184 Verhandlungstage ohne Urteil.
• Folge 5: Das Leben danach – Was lernen wir aus den Geschehnissen und der Aufarbeitung? Wie geht es den Betroffenen heute? Wird es je wieder eine Loveparade geben können?
Der Podcast ist abrufbar über waz.de/loveparade und Streaming-Apps wie z.B. Spotify, Apple Podcasts, Audio Now oder Deezer.
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