Essen/Kopenhagen. NRW altert. Nie zuvor sind Menschen so alt geworden wie heute! Ein Altersforscher mahnt, sich schon in jüngeren Jahren neue Ziele zu setzen.
Der Sauerländer Franz Müntefering muss es wissen. „Älter wird man von alleine, darüber muss man sich keine Gedanken machen“, sagt der ehemalige Vizekanzler und amtierende Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO). Doch der Politiker, der heute in Herne lebt und vor kurzem 80 Jahre alt wurde, beklagt gleichzeitig in seinen zahlreichen Vorträgen, „wie wenig man sich eigentlich auf das Älterwerden vorbereitet“. Dabei werden immer mehr Menschen immer älter – und das meist bei guter Gesundheit. Allein in den vergangenen einhundert Jahren hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung von 40 Jahren auf 80 Jahren verdoppelt. Und die Hälfte der nach der Jahrtausendwende Geborenen wird sogar ihren hundertsten Geburtstag feiern können, glauben Forscher.
Das Leben war noch nie so schön
„Das Leben war noch nie so schön wie heute“, sagt Rudi Westendorp im Gespräch mit unserer Sonntagszeitung. „Wir leben länger als unsere Großeltern, ja, als alle unsere Vorfahren jemals. Und wir sind dabei gesünder, fitter und aktiver.“ Der Professor am interdisziplinären Resarch Center for Healthy Aging der Universität Kopenhagen gehört zu den bekanntesten Altersforschern weltweit. „Vor allem sind wir reicher, wir wohnen besser, die technische Ausrüstung ist umfangreicher und die Qualität fast aller Dinge ist gegenüber früher deutlich gestiegen – das gilt beispielsweise auch für Nahrungsmittel, also unsere Ernährung“, fast der gelernte Intensivmediziner zusammen.
Während genetische Gründe kaum Einfluss auf die Lebenserwartung hätten – „unsere Gene haben sich ja nicht verändert“ –, seien externe Faktoren wie Sozial- und Gesundheitswesen viel besser organisiert als früher. Eine Tendenz, die nicht nur in den reichen westlichen Ländern gelte, sondern weltweit. Die Lebensqualität steige rund um den Globus.
Unterschätzte Lebenserwartung
Wenn es Schwierigkeiten oder Katastrophen gebe, seien diese meist menschengemacht, sagt der gebürtige Niederländer und verweist auf Kriege: „Men makes problems – in der Regel machen sich Menschen die Probleme selbst“, weiß Westendorp. Auch Pandemien wie die derzeitige Coronavirus-Krise bedeuteten natürlich Stress. Insofern sei das Dasein natürlich nicht immer einfach, „aber wir leben komfortabel.“
Den rasanten Anstieg der Lebenserwartung jedoch hätten fast alle unterschätzt, von Ärzten bis zu Versicherern, weil sie glaubten, dass es ein biologisches Höchstalter geben müsse. Die aktuellen Altersrekorde liegen bei 122 Jahren für Frauen und 116 Jahren für Männer. Doch es sei nur eine Frage der Zeit, bis auch diese Grenzen gebrochen werden. Rudi Westendorp: „Kein Zweifel also, dass die oder der Erste, der 135 Jahre und älter wird, schon geboren ist und unter uns lebt.“ Mit der rasch voranschreitenden Technologie könnte es sogar sein, dass der erste Mensch schon lebe, der 1000 Jahre alt wird, argumentierten einige.
Qualität und Inhalt der gewonnen Jahre
Doch weniger als die Länge des Lebens haben für den Altersmediziner und Bestsellerautor („Alt werden ohne alt zu sein – was heute möglich ist“) Qualität und Inhalt der gewonnenen Jahre eine Bedeutung. „Ich finde es erschreckend, dass wir im Prinzip immer noch in Bismarcks Zeiten leben“, so der Hochschullehrer: „Unsere Ausbildungszeit soll beendet sein, wenn wir um die 20 Jahre oder etwas älter sind. Dann folgen drei Jahrzehnte Arbeitsleben. Und ab 60 Jahren beginnt die Rente.“ Das aber sei besonders aus zwei Gründen problematisch: Zum einen sei es auf Dauer schwierig, Rentenzeiten von 20 oder 30 Jahren zu finanzieren. Zum anderen könne es auch individuell kein Ziel sein, ab 60 plus nur noch zuhause auf dem Sofa zu sitzen.
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„Fast jeder von uns ahnt nicht, wie lang die Zeit noch ist, die uns noch bleibt“, weiß Westendorp aus langjährigen Befragungen. Mit 75 Jahren etwa sei die verbleibende Lebenserwartung ohne Beeinträchtigung des täglichen Lebens in nur einer Generation von vier auf sechs Jahre gestiegen. Jede Woche fügen wir ein Wochenende zu unserer Lebenszeit hinzu, ohne dass im Alter die Zeit mit einer Erkrankung zunimmt. 75 sei das neue 65. Zwar verdoppele der Alterungsprozess das Krankheitsrisiko alle acht Jahre, doch die Entwicklungen in der Medizintechnik steuere dagegen an. „In den meisten Industrieländern ist die Wahrscheinlichkeit, an einem Herzinfarkt zu sterben, um 80 bis 90 Prozent gesunken.“ Britische Daten zeigten, dass das Risiko, dass Menschen im Alter an Demenz erkranken, seit dem Jahr 2000 um 30 Prozent gesunken sei. Gute Bildung und ein hoher IQ könnten ebenfalls vor Demenz schützen, da man mit ihnen über mehr „Reservekapazität“ verfüge und den kognitivem Verfall aufhalte. Darum rät Rudi Westendorp dringend: „Wer um die 55 Jahre alt ist, dem empfehle ich, sein Leben neu denken („rethink“) und neu zu erfinden („reinvent“). Die gewonnene Lebensspanne ist lang. Und anders als das, was zuvor war.“
Zufriedenheit steigt mit dem Alter
Westendorp hat vier Altersphasen erarbeitet, die vom Aufwachsen inklusive Ausbildung über die Berufs- und Familiengründungsphase mit der Erziehung der eigenen Kinder bis zu deren Auszug bis hinein ins Alter reicht. Wer heute im dritten Alter ist, sei zwischen 55 oder 60 Jahren und 70 bis 75 Jahre. Erst danach beginne heute in der Regel das eigentliche Alter. Und auch die Rente sollte erst dann beginnen – aus gesellschaftlichen wie aus persönlichen Gründen.
„Die Zahl der Älteren nimmt zu. Darauf haben Regierungen und Politik mit Maßnahmen in den Bereichen Familienplanung, Arbeit, soziale Unterstützung und Gesundheitsversorgung reagiert. Ich behaupte aber, dass die Hauptvision hinter vielen dieser Schritte falsch und daher ineffektiv ist.“ Denn diese beruhten auf der Annahme, dass sich angesichts der Bevölkerungspyramide viele um die ältere Bevölkerung kümmern müssten. „Stattdessen schlage ich einen altersunabhängigen Ansatz vor, der nicht das chronologische Alter als Kriterium etwa für Sozialbeitrag und den (Gesundheits-) Konsum zugrunde legt, sondern individuelle Kriterien“, so der Experte.
Die gefühlte Lebensqualität steigt
Alle Forschungen und Untersuchungen zeigten nämlich, dass gefühlte Lebensqualität und Stimmung im Alter steige. „Wenn die Kinder aus dem Haus sind, geht es den meisten besser“, weiß der Vater zweier Töchter. Und zwischen 60 und 65 Jahren steige die Zufriedenheit abermals im Vergleich zu Jüngeren.
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Dazu gehöre auch ein hohes Maß an Verantwortung für sich selbst. „Aus Untersuchungen in den Niederlanden wissen wir, dass 97 Prozent der Menschen es für wichtig halten, für ihre eigene Gesundheit verantwortlich zu sein“, so der Professor. Und überraschenderweise die ganz Alten im vierten Alter sehen ihre Alterssymptome nicht als etwas an, das besiegt werden muss.
Alte nicht als Kranke abstempeln
Die Überdiagnose und Überbehandlung älterer Menschen berge vielmehr eine große Gefahr, die Nebenwirkungen mit sich bringe, weil sie zu viel Wert auf körperliche Gesundheit lege. „Wenn älteren Menschen unnötigerweise gesagt wird, dass sie unter einer Reihe von medizinischen Problemen leiden müssen, können sie sich in die Rolle eines Kranken zurückziehen. Damit schränken sie oft ihren Alltag ein und werden weniger aktiv, selbst wenn sich Aktivitäten positiv auf ihr Leben auswirken würden. Wohlmeinende Familienmitglieder und Freunde können ihre Eltern oder andere Angehörige ebenfalls als krank behandeln, was das Problem verschlimmert.“
„Menschen sind soziale Tiere“
Richtig sei genau das Gegenteil, so der 60-jährige Westendorp. „Wer sich gut fühlt, lebt länger. Selbst mit einigen körperlichen Einschränkungen.“ Wichtiger sei, offen für Neues zu sein, lernen zu wollen und neugierig zu bleiben. Ein inspirierendes Umfeld bedeute ebenfalls emotionale Stärke, denn der Schlüssel zu einem langen Leben sei neben körperlicher Aktivität vor allem die Verbindung zu Umwelt und Umgebung, zu Partnerin oder Partner, Familie und Freunden.
„Menschen sind soziale Wesen“, sagt Westendorp. Deshalb müsse jeder eine Motivation finden, die sie oder ihn im Alter voranbringt – dies könne die sinnvolle Arbeit ebenso sein wie Religion oder Einsatz für andere und Ehrenamt. Ältere haben den Wunsch und die innere Freiheit, bis ins hohe Alter fachliches und vor allem (zwischen-)menschliches Wissen an die folgenden Generationen weiterzugeben.
Jeder braucht seine eigene Herausforderung
„Jeder muss sich in seinem Tun neu erfinden, um die eigene Zukunft reich zu gestalten“, rät Westendorp spätestens allen 55- bis 60-Jährigen. Er selbst halte dies ebenso: „Ich denke, dass ich vielleicht 95 Jahre werde. Darum muss ich mich auch noch einmal neu denken. Erst einmal plane ich ein Buch über das dritte Alter zu schreiben – da bin ich ja gerade drin. Das ist meine eigene Herausforderung.“
Franz Müntefering wird sich weiter für die Belange älterer Menschen einsetzen.
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NRW wird älter
Die Altersstruktur der NRW-Bevölkerung hat sich im Laufe der Zeit gewandelt: Der Anteil der Jüngeren hat sich verringert, während der Anteil der Älteren zugenommen hat. Gemessen am Medianalter – es teilt die Gesamtbevölkerung in eine jüngere und eine ältere Hälfte – ergab sich für Nordrhein-Westfalen 2016 ein Wert von 45,6 Jahren. In Deutschland liegt das Medianalter bei 45,9 Jahren, in der Europäischen Union bei 42,8 Jahren, so das Statistisches Landesamt.
Dagegen wird im Jahr 2040 die Zahl der Einwohner ab 65 Jahren in allen Gemeinden höher liegen als noch im Jahr 2014. In 27 Städten und Gemeinden wird sich laut Prognosen die Zahl der älteren Menschen mehr als verdoppeln.
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