Die Geisterhäuser am Strand - ein halbes Jahr nach Hurrikan "Sandy"
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Seaside Heights. . Trümmerhaufen und offene Wunden in den Häuserfronten: Der US-Bundesstaat New Jersey erholt sich nur sehr langsam von Monstersturm “Sandy“. Vor sechs Monaten wütete der verheerendste Hurrikan seit 40 Jahren an der amerikanischen Ostküste. In die kleinen Orten kehrt nur vorsichtig Leben zurück.
Es sieht aus, als hätte ein Riese erst gestern an der völlig falschen Stelle seine Füße abgetreten. Wer an der Ocean Avenue 1400 in Mantoloking rechts abbiegt, fährt direkt darauf zu. Links quellen die Küchenschubladen aus einem geborstenen Fenster. Rechts ragen rostige Heizungsrohre und Dachlatten wie spitze Zinnen in den Himmel, in der Mitte ist eine zerquetschte Badewanne samt Kinderzimmer zu sehen. Der gegen alle Geometrie verformte Trümmerhaufen war einmal ein großzügiges Strandhaus mit sechs großen, lichten Zimmern. Bevor „Sandy“ in New Jersey an Land ging. Sechs Monate nach dem verheerendsten Hurrikan seit 40 Jahren sieht es in der kleinen Strand-Gemeinde an der amerikanischen Ostküste gut 100 Kilometer südlich von New York noch immer aus wie in einem gottverlassenen Katastrophengebiet. Für ungeübte Augen.
Für George Nebel ist der Fortschritt „unübersehbar“. Der Bürgermeister weist auf den gut und gerne sechs Meter hohen Sandwall am Strand. Bulldozer haben ihn in den vergangenen Wochen zusammengeschoben; auf gut 1000 Meter Länge. Wenn in zwei Monaten offiziell die neue Hurrikan-Saison beginnt, will man schließlich „besser vorbereitet sein“ gegen die Flut. Mantoloking war Ende Oktober vergangenen Jahres kein bisschen vorbereitet. Sämtliche 521 Häuser der Ortschaft wurden stark beschädigt oder völlig zerstört, als Sandy mit 140 km/h über das Land fegte. In der nächsten Woche sollen die ersten Trümmer abtransportiert und unreparierbare Häuser, die hier dutzendweise zu finden sind, planiert werden.
Bis Ende März haben die Versicherungen sechs Milliarden Dollar an 500.000 Anspruchsberechtigte ausgezahlt. Die staatliche Katastrophenbehörde „Fema“ hat bis heute 125 000 Häuser inspiziert und für Erste Hilfe, Darlehen und Flutschadenbeseitigung ihrerseits fünf Milliarden Dollar verteilt. Die Regierung des Bundesstaates bewilligte 1,8 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau. Nur: Wenn man von Mantoloking aus Richtung Süden fährt, sieht man davon – nichts.
Sandy: Szenen der Verwüstung
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Trostlosigkeit trotz strahlendem Himmel
Ganze Straßenzüge verströmen Geisterstadt-Atmosphäre. Überall ist die Handschrift Sandys zu erkennen. Häuser mit einem rot gepinselten X warten auf die Abrissbirne. Die meisten Geschäfte und Restaurants sind verbarrikadiert. Nur vereinzelt sieht man Menschen schaffen, schrauben, sägen. Trostlosigkeit trotz strahlend blauem Himmel.
„Nein, nein, ganz f alsch, Sie müssen einfach genauer hinsehen“, sagt Leonardo und lächelt. Der in Ehren ergraute italienische Einwanderer hantiert in der Nähe der frisch gezimmerten Strandpromenade von Lavallette an den Fundamenten eines windschiefen Hauses. „In drei Monaten ziehen die Eigentümer hier wieder ein, vorausgesetzt, die Handwerker haben Termine frei“, sagt der 84-Jährige, „gute Bausubstanz zahlt sich eben aus.“ Leonardo lebt 15 Kilometer von der Küste entfernt. In der Sandy-Nacht hat erst ein Baum und danach ein Strommast sein Haus zerstört. „Tranchiert wie ein Huhn, unbelievable!“. Unglaublich. Das am häufigsten benutzte Wort weit und breit. Vor allem in Brick.
Von hier aus, drei lange Frisbeewürfe weiter gen Süden, gingen furchtbare Bilder in die Welt. Camp Osborne, eine jahrzehntealte Anlage aus 100 Bungalows, hatte Sandy lange getrotzt. Dann verwandelte eine Gas-Explosion das Areal in Strandnähe in ein Flammenmeer. „Wochenendausflügler halten hier noch heute an und fotografieren aus dem Auto heraus die verkohlten Trümmer“, erzählt James Snyder, „bis der Sheriff sie verscheucht.“
Was von Sandy übrig blieb
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Der Sturm hatte ihr Haus verschont
Der 74-Jährige wohnt keine 100 Meter entfernt gegenüber. Am Tag, bevor Sandy kam, musste der Pensionär mit wenigen Habseligkeiten und Gattin Flore unter dem Arm zur ältesten Tochter auswandern. Als er vor einem Monat zurückkommen durfte, waren Staunen und Erleichterung groß. Der Sturm hatte das Haus der Synders verschont. Fenster, Dach, alles heil geblieben. Nur in der Garage stand das Wasser einen halben Meter hoch. „Wir haben verdammtes Glück gehabt.“
Aber jetzt fühlen sich die Pensionäre sehr allein. Keine gemeinsamen Abende mehr mit den Wilsons und Jones‘ bei Kartenspielen. „Schauen Sie doch“, sagt Flore Snyder, „alles wie ausgestorben.“ Weil Strom, Wasserversorgung, Telefon und Internet nur schrittweise zurückkommen und es nachts stockfinster und still ist, schaut regelmäßig eine Polizeistreife vorbei. Die Snyders wollen trotzdem nicht weg. „Wir sind schon 13 Jahre hier. Kann sein, dass es noch mal so lange dauert, bis das Leben hier wieder normal läuft. Wir haben Geduld.“
Die kann sich William Akers nur eingeschränkt leisten. Der Bürgermeister von Seaside Heights steht unter Erfolgsdruck. Er muss ein Seebad wieder flottmachen. In Seaside
Heights, einer urigen Mischung aus Cranger Kirmes und dem Seebad Scheveningen, ist die Strandpromenade samt Pier seit 65 Jahren Wirtschaftsfaktor Nr. 1. Das Gros des Jahresbudgets von 12,5 Millionen Dollar speist sich aus den Einnahmen, die Sonnenhungrige und Vergnügungslustige aus Philadelphia in dem schäbigschönen Strandbad lassen.
Seit Sandy das Wahrzeichen, die riesige Jet-Star-Achterbahn, wie ein gieriger Staubsauger aufgesogen und 500 Meter weiter im Meer wieder ausgespuckt hat, sitzt die Gemeinde auf dem Trockenen, renoviert gegen Atlantik-Brandung an und zeigt sich von ihrer schlecht geschminkten Seite. Katastrophen-Touristen lassen sich vor dem verbogenen Rollercoaster-Gestell oder dem Riesenrad-Tragpfeiler fotografieren, der wie ein großer Zahnstocher verloren in der Landschaft steht. Wer’s gut meint mit dem geschundenen Seaside Heights kauft für 25 Dollar das Stück T-Shirts und Kapuzen-Pullover mit dem Slogan: „Restore The Shore!“ – Baut den Strand wieder auf! Ende Juni soll es so weit sein. Sagt Bürgermeister Akers. Welches Jahr hat er nicht erwähnt.
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