Berlin. . Viele Mädchen und Jungen wollen heute keine spielenden Kinder mehr sein. Dabei wünschen sich Eltern für ihre Töchter und Söhne eine unbekümmerte Bullerbü-Zeit. Die neue Kindheit ist für sie eine Herausforderung. Aber eine, die sie meistern können.
Karla ist zwölf Jahre alt und geht in die siebte Klasse. Die meisten ihrer Freundinnen kommen geschminkt in die Schule. Karlas Mutter erlaubt das nicht, Karla findet das ziemlich gemein. Einerseits. Andererseits hat sie neulich, als die Familie zum Sonntagsspaziergang aufbrach, lange überlegen müssen, was sie mitnimmt. Die kleine Handtasche für Lipgloss und Smartphone, die man lässig in der Armbeuge tragen muss, oder das dicke Seil, das Karla und ihr Bruder immer benutzen, wenn sie draußen einen Pferdezügel oder eine Hundeleine zum Spielen brauchen. Karla hat schließlich Lippenstift und Handtasche zu Hause gelassen und das Seil mitgenommen.
Die Zeit, in der Kinder noch Kinder sind, wird immer kürzer. Immer früher treten Kinder in die Welt der Erwachsenen ein. Grundschüler haben selbstverständlich Handys, schon Viertklässler achten peinlich darauf, nicht beim Kindsein erwischt zu werden und bloß immer die richtigen Klamotten zu tragen. Die neue Kindheit ist eine Herausforderung für Eltern. Aber eine, die sie meistern können.
Nie zuvor war Kindheit so sehr durch Medien und Konsum geprägt
Karla ist ein untypisches Mädchen. Die wenigsten Zwölfjährigen erlauben es sich heute noch, mit einem imaginären Pony durch den Park zu galoppieren. Typischer sind Mädchen wie Marie. Die Neunjährige geht in die vierte Klasse. Auf die Frage, ob sie eigentlich noch manchmal „Pferd“ spielt, guckt sie einen empört an. „Schon lange nicht mehr.“ So etwas sei doch „voll peinlich“. Nie zuvor war Kindheit so sehr durch Medien und Konsum geprägt wie heute. Keine andere Kindergeneration konnte über so viel Geld verfügen. Und keine stand deshalb so sehr unter dem Dauerfeuer der Spielzeug- und Unterhaltungsindustrie.
Wer sein Kind davor schützen will, hat es schwer. Wer sein Kind frühzeitig mitmachen lässt, aber auch. Die Folge: Nie zuvor haben sich Eltern so oft gefragt, ob sie eigentlich gute Eltern sind. Rund 20 Experten aus Wissenschaft und Praxis haben jetzt in einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung diese „Neue Kindheit“ beleuchtet. („Erziehung in der Wohlstandsgesellschaft. Aufwachsen mit Konsum und Medien“, St. Augustin 2013). Das Ergebnis: Kinder wachsen heute nicht nur unter anderen Bedingungen auf als die Generationen vor ihnen.
„Durch die Kommerzialisierung der Kindheit schwinden die Grenzen zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“, schreibt Herausgeberin Christine Henry-Huthmacher. Jede Mutter, jeder Vater kennt heute solche Beispiele: Achtjährige Mädchen laden nicht mehr zum Kindergeburtstag, sondern spielen mit ihren Gästen Disco. Neunjährige Jungs finden Kinderfilme uncool und gehen lieber in den neuen „Bond“.
Kindheit als Zeit des Spielens war mal ein Fortschritt
Kindheit im herkömmlichen Sinn ist heute oft wieder so kurz, als hätten alle vergessen, welch ungeheurer Fortschritt es war, Kinder nicht länger als kleine Erwachsene zu behandeln und zu drillen, sondern Kindheit als schützenswerte Entwicklungsphase zu behandeln. „Der hauptsächliche Wandel der Kindheit im 20. Jahrhundert ist nicht der zur Reformpädagogik, sondern der zur kommerziellen Kindheit“, sagt der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers.
Die heutigen Eltern haben als Kinder der 60er, 70er und 80er Jahre in der Mehrheit selbst eine recht lange, überwiegend gewaltfreie und behütete Kinderzeit erlebt. Auch für ihre eigenen Kinder wollen sie nur das Beste und vor allem: eine glückliche Kindheit. Am liebsten würden sie ihren Kindern jeden Wunsch erfüllen - und ahnen gleichzeitig, dass gute Erziehung anders funktioniert. Überall lesen sie, wie wichtig es ist, Kinder zu leistungsstarken und selbstständigen, aber auch mitfühlenden und verantwortungsvollen Menschen zu erziehen. Also müssen sie ihnen beibringen, Bedürfnisse zu kontrollieren, sparsam zu leben und überlegt einzukaufen. Und das ist gar nicht so leicht, in einer Welt, die permanent mit Spaß und Konsum lockt.
„Wir hätten so gerne kreative Kinder, die mit drei Rosinen Vater-Mutter-Kind spielen“, schreibt Gerlinde Unverzagt („Lehrerhasserbuch“) in einem Beitrag für die Studie der Adenauer-Stiftung. „Wir sähen sie gerne als bescheidene, gegen die Verlockungen des Überflusses gefeite Kinder, die mit Kuss und dickem Apfel glücklich von dannen ziehen.“ Doch „am Ende kaufen wir ihnen doch das unverschämt teure Fußballtrikot, den Gameboy, das Handy. Umgekippt! Weich geworden!“ Warum ist das so?
Ist es ein Akt der Fürsorge, wenn Eltern Kindern Smartphones kaufen?
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Eltern wollen alles für Kinder tun, haben aber scheinbar wenig Spielraum dafür. Das liegt auch an ihrem eigenen Alltag: Die meisten Eltern sind berufstätig. Dadurch ist in vielen Familien mehr Geld da, aber weniger Zeit. Materielle Wünsche lassen sich leicht erfüllen – so haben die Kinder ihren Spaß und die Eltern das Gefühl, ihnen etwas Gutes zu tun. „Nein“ zu sagen, das mag vernünftig sein, macht aber erstmal niemanden glücklich.
Und ist es nicht tatsächlich auch ein Akt der Fürsorge, wenn Eltern ihrem Kind Markenkleidung, angesagtes Elektronikspielzeug und das richtige Smartphone kaufen? Viele Eltern sehen das heute so. Erleben aber gleichzeitig, welche Folgen häufiges Nachgeben haben kann. Nicht jeder kann den Medienkonsum seines Kindes kontrollieren. Und nicht jeder will, dass sein Kind schon im Grundschulalter tut, als sei es ein Teenager, der seine Welt nach modischen „In and Out“-Kategorien unterteilt. Aber: Eltern müssen schon sehr viel Zeit und Energie investieren, um eine „Gegenwelt“ zu behaupten. Die Folge: „Die heutige Kindheit“, glaubt Oelkers, „ist nicht dämonisch, nur sehr viel anstrengender für die Erwachsenen.“ Es ist der tägliche Spagat zwischen Ermöglichen und Verhindern. Er glückt mal mehr und mal weniger. Die gute Nachricht: Es geht allen so. Eltern sind keine Einzelkämpfer.
Der Traum vom Dauerglück
Aber manchmal sind sie’s leid. Und dann träumen sie von „Bullerbü“, von einer Idylle mit Kindern im konkurrenz- und konsumfreien Dauerglück. Aber geht es ihnen dabei wirklich um ihre Kinder – oder nicht viel mehr um sie selbst? Flüchtet sich hier eine Generation, die unter hohem beruflichen und familiären Druck steht, in ein „Früher-war-alles-besser“-Denken? Oelkers jedenfalls diagnostiziert bei vielen Eltern „pädagogische Nostalgie“ und schüttelt den Kopf: „Kinder haben ‚früher’ nicht ‚besser’ gelebt.“
Aber sie haben anders gelebt. Sie wurden von der Welt der Erwachsenen mehr in Ruhe gelassen. Zwar wussten auch vor 30 Jahren Kinder schon, welches Spielzeug gerade in Mode war und auf den Wunschzettel gehörte. Doch die Moden wechselten nicht alle paar Monate. Heute dagegen stehen Kinder im Dauerfeuer der Werbekampagnen. Mit Erfolg: Trotz sinkender Geburtenrate freut sich die Spielwarenbranche über stetiges Wachstum.
Kinder werden sehr früh und sehr hartnäckig umworben, weil sie erstens selbst über viel Geld verfügen und zweitens in hohem Maße über das Geld der Erwachsenen bestimmen. Das hat mehrere Gründe: Es gibt immer weniger Kinder, die sich den familiären Geld- und Geschenksegen teilen müssen. Großeltern leben immer länger und sind oft vergleichsweise wohlhabend. Viele Trennungskinder bekommen zum „Trost“ Extragaben, die Konkurrenz zwischen getrennten Eltern sorgt oft für zusätzliche Zuwendungen. Der Effekt: Vor allem in der Mittel- und Oberschicht gibt es immer mehr Geld für immer weniger Kinder. Und schließlich gilt für viele Eltern: An den Kindern wird zuletzt gespart.
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Alle paar Monate eine neue Produktwelt – so werden Kinder heute systematisch in einen Dauerkaufrausch versetzt: Allein für Mädchen im Grundschulalter gab es in den letzten zwei, drei Jahren etliche neue „Must-Haves“: Das „Top Model“-Universum, die Welt der „Monster High“-Barbies oder die neue Serie „Lego Friends“. Der Klötzchen-Hersteller war selbst überrascht, wie reflexartig die Mädchen auf die neue Produktwelt reagierten. Tatsächlich waren die Packungen vor Weihnachten in manchen Läden ausverkauft. Die verbreitete Eltern-Meinung zum neuen Lego-Hype: „Hauptsache sie spielen überhaupt noch analog, nicht nur digital.“ So reden sich Mütter und Väter die Sache schön. Oder finden sie das alles am Ende sogar selber begehrenswert?
Tempo zu drosseln und Kinder im Kindsein bestärken
Ingo Barlovic vom Institut „Iconkids & Youth“ wundert sich überhaupt nicht über das Phänomen, der immer kürzeren und immer mehr konsumorientierten Kindheit: „Es ist doch kein großes Wunder, dass sich die Kinder halbstark benehmen, wenn auch ihre Eltern halbstark sind.“ Kinder von heute hätten es mit Eltern zu tun, die sich permanent beweisen müssten, wie jung sie sich fühlen. Trotz 30 Jahren Altersunterschied pflegen Eltern und Kinder oft die gleiche Freizeitkultur: „Beide tragen Jeans. Beide kaufen bei H&M, spielen mit der Wii, sehen die gleichen Dinge im Fernsehen – Heidi Klum und Stefan Raab – gehen auf Partys . . .“ Bei Kindern wie Erwachsenen hat Shoppen längst den Status eines Hobbys erlangt.
Wer den Kindern die Kindheit erhalten will, muss kein Konsumverweigerer werden. Wichtiger ist, das Tempo zu drosseln und Kinder im Kindsein zu bestärken, solange sie das selbst noch wollen. Das ist nicht leicht, aber wir sollten uns immer wieder daran erinnern.
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Maries Sitznachbarin Katharina hat beim Weihnachtswichteln der vierten Klasse eine Mini-Packung mit Playmobil erwischt. „Oops“, sagt sie unsicher und schaut schnell, was Marie und die anderen Mädchen dazu denken. Weil die keine Miene verziehen, entscheidet sich Katharina sicherheitshalber dafür, das Geschenk peinlich zu finden. „Mit so was spielt meine kleine Schwester!“ Mischt sich jetzt die Lehrerin ein? Sagt sie zum Beispiel: „Ach Katharina, ich glaube, ihr spielt doch alle ganz gerne noch mit solchen Sachen.“ Nein. Sie zuckt bloß die Achseln. „Da hat wohl jemand beim Aussuchen nicht nachgedacht.“ Nicht nachgedacht? Vielleicht ja doch. Und vielleicht hat dieser jemand an Mädchen wie die zwölfjährige Karla gedacht. Die noch nicht aufgehört hat, Kind zu sein.