Essen. Der tiefe Glaube ans Kaufen ist ein weltweit gültiges Bekenntnis – und er kommt den Strukturen einer Religion in vielem sehr nahe. Religiöse Sehnsüchte, Konsumkult und die schöne neue Dingwelt hängen zusammen. Und zwar enger als gedacht.
Unter der Kuppel schimmert goldener Dunst, es blitzt und blinkt und strahlt. Die Glasvitrinen, Heiligenschreinen gleich, sind dekoriert mit Lichterketten und Tafeln voller froher Botschaften. Hier entlang pilgern die Gläubigen, ein wenig unruhig vielleicht, aber doch erfüllt vom Trost des Rituals. Ihre Taschen und Tüten sind gefüllt, ihre Gesichter seltsam leer. Im Tempel des Konsums huldigen sie der letzten Überzeugung, die in der säkularen Gegenwart noch mehrheitsfähig ist.
Der tiefe Glaube ans Kaufen ist ein weltweit gültiges Bekenntnis – und er kommt den Strukturen einer Religion in vielem sehr nahe. Religiöse Sehnsüchte, Konsumkult und die schöne neue Dingwelt hängen zusammen. Und zwar enger als gedacht.
Drei Szenen der vergangenen Wochen:
Ein Vater erzählt mir stolz, er habe aus Amerika die neueste Trend-Jeans für seine Tochter Karla mitgebracht: „Bei uns kostet die locker das dreifache!” Karla wird demnächst fünf.
Annette, eine Freundin aus Schulzeiten, kauft sich eine Bluse, die sie schon hatte: „Stell dir vor”, sagt sie, „das habe ich erst gemerkt, als ich das Teil in den Schrank gehängt habe.”
In der Nachbarschaft beginnt ein reger Tausch mit Internetadressen von Anbietern, bei denen es diese coolen Fellstiefel günstiger gibt. Niemand weiß, ob es die echten sind. Egal – sie sehen echt aus.
Wasser predigen und am Wein nippen
Aber vielleicht weiß die kleine Karla ihre neue Jeans wirklich zu schätzen. Wer bin ich, dass ich den ersten Stein werfe? Wollen wir mal nicht Wasser predigen und heimlich am Wein nippen! Meinen eigenen Kindern kaufe ich im Supermarkt regelmäßig Schoko-Eier oder bunte Zeitschriften voller Helden aus der doofen Merchandising-Industrie. Die Quengelware ist Teil unserer persönlichen Supermarkt-Liturgie. Weil ich das selige Strahlen auf ihren Gesichtern so mag. Weil ich es so gut kenne, das Habenwollen, den Kick. Das Glück auf Erden.
Denn auch das ist wahr: Einkaufen macht glücklich, sogar über den Moment hinaus. Der Erwerb profaner Dinge ist es heute, an denen sich Sinn, Gemeinschaft und Hoffnung festmachen – vor allem die Hoffnung darauf, dank dieser Dinge ein besserer Mensch zu werden. Während Kirchen schließen, sprießen die Einkaufstempel aus dem Boden.
Dein Wille geschehe: Wo der Glaube wohnt
Martin Lindstrom ist der Guru des Neuromarketings. Der Däne ist weltweit ein gefragter Wanderprediger, seit er auf die Idee kam, Werbebotschaften im Hirnscan zu testen. Die Reaktionen von über 2000 Menschen hat er untersuchen lassen und dabei festgestellt, dass religiöse und konsumkultige Symbole dieselben Hirnareale befeuern. Probanden, die religiös waren, reagierten beim Anblick religiöser Symbole mit Aktivitäten in denselben Hirnregionen, die auch durch starke Marken gereizt wurden – „ein iPod, ein Glas Guinness oder einen Ferrari-Sportwagen”. In seinem Buch „Buyology“, der Bibel modernen Marketings, schreibt Lindstrom: „Die Reaktionen auf die starken Marken und Kultsymbole waren nicht nur bloß ähnlich, sondern fast identisch.“
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Die „starken Marken” haben dabei selbst viel mit den Weltreligionen gemeinsam. Lindstrom macht drei Wesensmerkmale aus, die sich ähneln: Marken und Religionen haben oft einen Gründungsmythos (denken wir etwa an den Garagenbastler und späteren iGod Steve Jobs). Mit ihnen sind bestimmte Rituale und Geheimnisse verbunden (das Coca-Cola-Rezept). Und sie stiften Gemeinschaft, oft gegen einen erklärten Feind: Coca Cola oder Pepsi? Mac oder PC? Die Entscheidung für oder gegen eine Glaubensgemeinde prägt heute entscheidend unser Selbstbild.
Und vergib uns unsere Schuld: Wie wir bessere Menschen werden
Aber warum scheinen uns manche Produkte zuzurufen: Kauf mich, jetzt, sofort – und manche meiden wir wie der Teufel das Weihwasser? Hinter unseren Entscheidungen steckt immer ein kluger Kopf. Nur nicht unbedingt unserer. Zum einen lassen wir uns beim Gang durch die Regalreihen von Tricks übertölpeln: Vanilleduft steigert die Kauflust in der Parfümerie, Brotduft den Umsatz des Supermarktes, und Baumärkte, in denen es nach frisch gemähtem Gras riecht, verkaufen doppelt so viel. (Ob eigentlich, sorry für die ketzerische Frage, in katholischen Kirchen die Füllhöhe des Klingelbeutels und die Stärke des Weihrauchduftes korrelieren?)
Zum anderen erliegen wir willig dem Versprechen, bessere Menschen zu werden. So reizen Produkte, die wir zum Niederknien cool finden, nachgewiesenermaßen eine Hirnregion, die als Brodmann-Areal 10 bekannt ist: zuständig für Selbstwahrnehmung und soziale Emotionen. Guru Lindstrom: „Das heißt, dass wir bewusst oder unbewusst aufregende Dinge wie iPhones, Porsches und dergleichen hinsichtlich ihres Potenzials beurteilen, unseren gesellschaftlichen Status zu erhöhen.“ Ich kaufe, also bin ich besser. Mit ausgesuchter Kleidung, einer teuren Uhr, dem allerneusten Technik-Gadget – den Reliquien des Konsumkultes. Dabei sehen wir uns selbst im Spiegel unserer ganz persönlichen Zielgruppe: „Luxusgüter kann man als Verführungsinstrumente betrachten“, schreibt die Soziologin Eva Illouz im Buch „Konsum der Romantik“, „weil sie auf den gesellschaftlichen Status ihrer Benutzer verweisen“. Und Status macht sexy.
Die Verheißungen der konsumierbaren Selbstverbesserung aber gehen sogar über die Sexyness hinaus. Mit fair gehandelter Bio-Schokolade, mit Holzspielzeug aus der Behindertenwerkstatt und tierversuchsfreiem Duschgel kaufen wir uns mal eben von unseren Sünden frei. Und vergib uns unsere Schuld! Wobei es schon fast niedlich ist, dass wir meinen, mit dem Erwerb eines schmerzhaft teuren Päckchens Kaffee Absolution zu erlangen. Nichts gegen verantwortungsbewusste Konsumenten, ein Hoch auf globale Gerechtigkeit. Doch während es im Christentum noch darum ging, unserem per se schuldbeladenen Dasein einen Hauch Rechtfertigung abzuringen, tragen heute viele Biomarkt-Einkäufer ihre Papiertüten wie eine Monstranz vor sich her – selbstgefällig statt demütig.
Denn dein ist das Reich: Die fanatischen Käufer
Keine Religion ohne fanatische Irrlichter. Immer mehr „Shopaholics“ sind dem Dopamin-Kick an der Kasse rettungslos verfallen. Das „Lusterleben des Kaufaktes“ nennt die Psychologie diesen schier paradiesischen Rausch, der doch einen Kreuzzug gegen den eigenen Kontostand bedeutet. Auch Männer geben mehr Geld aus, als sie haben, verschulden sich für teure Computerteile oder verstecken ihre Internet-Bestellungen vor der Familie. Kaufsucht tritt oft in Kombination mit anderen Süchten oder Depression auf, und, eine Hiobsbotschaft: Sie nimmt zu. 1991 offenbarte die bisher größte Studie zum Thema, dass fünf Prozent aller Westdeutschen und ein Prozent aller Ostdeutschen sehr stark kaufsuchtgefährdet seien. 2008 waren es bereits acht Prozent im Westen und schon sechs Prozent im Osten. Willkommen in der schönen neuen Warenwelt! Der traurige Witz ist, dass Kaufsüchtige die Dinge, die sie horten, weder brauchen noch schätzen. Für sie ist der Kauf Selbstzweck, entkoppelt von der Welt der Objekte.
Wie im Himmel, so auf Erden: Unsere Liebe zu den Dingen
Als der englische Ethnologe Daniel Miller Familien eines Problemviertels in London besuchte und diese ihm so wortkarg begegneten wie schamhaft Pubertierende im Beichtstuhl – da entpuppte sich die Frage nach ihren Besitztümern als Sesam-öffne-dich. Aus den Gesprächen entstanden ist ein Buch, „Der Trost der Dinge“, in dem etwa eine Plattensammlung, das Spielzeug der Kinder oder ein geerbter Tisch uns auf wundersame Weise ins Leben ihrer stolzen Besitzer schauen lassen.
Aber wie kommt es eigentlich, dass uns heute Dinge zunehmend heilig sind? Miller zufolge übernehmen unsere Besitztümer genau das, was einst die übergeordnete Erzählung der Religion geleistet hat: Dinge verbinden uns mit der Welt und mit anderen, und wir laden sie immer stärker mit Bedeutung auf. Dazu bieten sich Gegenstände heute an, weil sie in die Welt gelangen wie vom Himmel gefallen. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann verweist auf die globalen Produktionswege: Konsumgüter werden nicht mehr von einem einzigen Menschen hergestellt, noch nicht einmal in einer einzigen Fabrik oder einem einzigen Land. In seinen Augen eigne sich daher jeder beliebige Alltagsgegenstand dazu, „quasireligiös“ angebetet zu werden.
Die heilige Dreifaltigkeit der Objektwelt ist ein dreifaches Versprechen: Teil einer (Marken-)Gemeinschaft zu sein, unseren Selbstwert zu steigern – und uns mit anderen Menschen zu verbinden. Eine These: Die Dinge, die in unseren Besitz gelangen, werden zu Heiligtümern, weil sie eine Geschichte in sich bergen – nämlich unsere.
Wie aber lassen sich heute Geschichten aus der Dingwelt erzählen? Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk zeigt in seinem „Museum der Unschuld“ Gegenstände aus dem Besitz seiner Romanfiguren Kemal und Füsun – ursprünglich hatte er sogar dem Roman die Form eines Ausstellungskatalogs geben wollen. Eine ganz ähnliche Idee verfolgte die New Yorker Grafikerin und Autorin Leanne Shapton: Ihr Buch „Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Leonore Doolan und Harold Morris“ ist ein Auktionskatalog, der eine großartige Schöpfungsgeschichte der Liebe erzählt. Die Story beginnt mit einer Serviette, auf der eine Telefonnummer steht, und führt zu Büchern, CDs, Kinokarten – Stufen auf dem Weg in den siebten Himmel.
Und die Herrlichkeit in Ewigkeit: Vom Glück des Gebens
Wovon lassen wir uns nun wirklich leiten, wenn wir an die Regalen pilgern? Auch Ethnologe Daniel Miller ging dieser Frage nach und begleitete Menschen in den Supermarkt. Seine überraschende Erkenntnis: Die Käufer dachten in den allermeisten Fällen an diejenigen, die ihnen nahe sind. „Die Liebe spielt beim Shopping eine sehr große Rolle“, so Miller: „Man kann Liebe nicht nur mit Worten ausdrücken, sie zeigt sich auch darin, wie man für seine Familie oder seine Freunde sorgt.“
Ans (Freude-)Schenken denken: Dies wäre ein schöner, tröstlicher Aspekt des modernen Konsumkultes. Tatsächlich macht, Studien zufolge, das Geldausgeben für andere sogar noch glücklicher, als sich selbst etwas zu kaufen.
Geben macht seliger als nehmen.
Unter dem hohen Kuppelgewölbe schimmert goldener Dunst, es blitzt und blinkt und strahlt. Die Menschen tragen Tüten, Taschen, seltsam entrückten Blickes. Sie schauen ganz nach innen und sind erfüllt vom alljährlichen Ritual: ihre Nächstenliebe in Geschenkpapier zu wickeln, von ganzem Herzen.