Essen. Dr. Eckart von Hirschhausen hat ein gutes Mittel fürs Gehirn: Computer aus, Buch auf. Der Mediziner und Moderator plädiert für Handschrift und Gedrucktes, weil die digitalen Medien so flüchtig sind. Das Kapitel „Alles E!“ aus seinem Buch können Sie hier schon lesen.

Die traurigsten Geschäfte in Bahnhofsnähe sind die für Briefmarken- und Münzsammler. Oft vergitterte Fenster, meist geschlossen, und wenn mal geöffnet ist, habe ich noch nie einen Kunden sich darin verirren sehen. Philatelisten und Numismatiker gehören auf die Rote Liste der vom Aussterben bedrohten Arten. Es fehlt der Nachwuchs. Früher hatte es einen Reiz, seiner Angebeteten anzubieten: „Komm doch noch schnell mit hoch, ich zeig dir meine Briefmarkensammlung.“ Aber das verfängt schon lange nicht mehr. Eine 20-Jährige würde antworten: „Share die doch auf flickr!“

Kein Wunder, dass Briefmarkensammler sich nicht vermehren. Das Internet hat alle Modalitäten von Brief-, Zahlungs- und Geschlechtsverkehr revolutioniert. Ich habe immer noch Liebesbriefe von früher, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die nächste Generation in einem alten Koffer einen USB-Stick mit den schönsten SMS aufbewahrt. Ein elektronischer Liebesbrief ist so überzeugend, wie jemandem ein Foto von einer Pizza zu mailen und zu sagen: Wenn du Hunger hast, kannst du sie dir ausdrucken.

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Es muss nicht unbedingt handgeschöpftes Papier sein, aber handgeschrieben ist einfach etwas anderes. Mit Füller, mit Schweiß, ohne Option, alles löschen zu können, was da schon steht, es sei denn, man fängt noch einmal ganz von vorne an. Es gab eine Zeit, in der man vor dem Schreiben dachte. Also, ich schreibe alle meine Bücher erst mit Tinte in Briefform an eine unbekannte Leserin. Quatsch, ich bin froh, wenn der Laser im Drucker auf mich reagiert.

Vorlesen unterm Lampenschirm

Aber was ich tatsächlich mache: Ich lese die Buchtexte einem Menschen vor. Und lieber unter einem Lampenschirm als von einem Bildschirm. Bin ich hoffnungslos romantisch oder einfach nur veraltet? Fehlt mir ein Update? Ist meine Software nicht aktuell genug?

Nennen Sie mich altmodisch, aber ich glaube auch nicht so richtig an das E-Book! Ich finde es weder für mich schön noch für Leute, bei denen ich zu Besuch bin. Das E-Book hat nicht diesen typischen Geruch, diese Mischung aus Papier und Farbe. Und dann gibt es da noch etwas: Ich weiß, es ist indiskret, aber wenn ich das erste Mal bei jemandem zu Hause bin, schaue ich nicht bei der ersten Gelegenheit im Bad nach den Geheimnissen der Kosmetik oder am Tisch, von welchem Hersteller das Porzellan ist. Ich inspiziere das Bücherregal. Dann weiß ich sehr viel verlässlicher, ob jemand alle Tassen im Schrank hat.

Man darf sich natürlich nicht von den extra zur Begutachtung drapierten Coffee-Table-Books ablenken lassen, bei denen es wichtiger ist, dass sie vom Format her zum Tisch passen als zur Persönlichkeit. Geistige Größe verraten die Regalecken, in denen schon länger nicht mehr Staub gewischt wurde, die aber vergangene Epochen der Auseinandersetzung dokumentieren. Zu wissen, was jemand gelesen hat oder zumindest mal vorhatte zu lesen, gibt automatisch Anlass zur Konversation oder, im schlimmsten Fall, zur Flucht. Jemanden wie ein offenes Buch lesen zu können, erfordert offene Bücher!

Sorgfalt bei der Auswahl geistiger Nahrung

Ich beneide Menschen, die dicke Bücher wälzen. Berufsbedingt lese ich seit der Ausbildung viele Fachartikel und Sachbücher, viel lese ich quer und noch mehr gar nicht. Lesezeit ist immer ein zu knappes Gut für zu viele gute Bücher. Oft schäme ich mich fremd, wenn ich sehe, was für Lebenszeit Menschen mit schlechten Zeitschriften vergeuden. Es gehört heute zum guten Ton, kein Junkfood in sich hineinzustopfen und darauf zu achten, wie sorgsam die Nahrung zubereitet wurde. Seltsamerweise legen die wenigsten Menschen die gleiche Sorgfalt bei geistiger Nahrung zugrunde. Rolf Dobelli hat einen interessanten Essay geschrieben, warum er nur noch Bücher liest und keine Zeitungen und erst recht keine Internet-Newsportale. Denn die sind das mentale Fastfood, das wenig nährt, nur übersättigt.

Komme ich auch selbst selten zum Schmökern, freue ich mich umso mehr fremd, wenn mir in der U-Bahn jemand gegenübersitzt, der gerade die letzten fünfzehn Seiten von geschätzten fünfhundert vor sich hat. Ich fiebere förmlich mit, ob Buchende oder Endbahnhof zuerst erreicht werden, ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Aus Erfahrung kann ich sagen: Das Schönste für einen Autor ist es, jemanden zu beobachten, der das eigene Buch liest und über etwas, das im stillen Kämmerlein erdacht wurde, plötzlich laut lacht. Wenn ein Musenkuss oder ein Musenlächeln sich über das Medium des bedruckten Papiers auf ein fremdes Gesicht zaubern lässt – das ist die Magie des Buches.

Der Buchleser sucht Tiefe, nicht Benutzeroberfläche. Er will etwas begreifen, nicht durchscrollen. Autor und Leser verbindet mehr als ein drahtloses Netzwerk zum Downloaden. Als Autor will ich ein Netzwerk von Assoziation und Gedanken teilen, jemanden verstricken in das Ersonnene und Ersponnene, und als Leser möchte ich verstrickt werden, gefesselt – ohne Peitschenhiebe. Wobei, wer es mag – da gibt es auf dem Buchmarkt große Grauzonen. Und bei bestimmten Büchern verstehe ich auch, dass es besser ist, wenn keiner weiß, dass man sie liest.

Viele Journalistenkollegen prophezeien, man würde in naher Zukunft nur noch PDFs auf einer Festplatte türmen statt Gedrucktes auf dem Tisch. Klar kann man dadurch noch mehr Bücher in den Urlaub mitnehmen, aber ehrlich gesagt, löst das nicht das Problem, es macht es schlimmer. Ich hatte noch nie zu wenig zu lesen dabei. Ich will ein Buch über mein Gesicht legen, wenn ich in der Sonne döse, keinen Prozessor. Und es gibt kaum etwas Befriedigenderes, als im Urlaub ein gelesenes Buch von einem auf den anderen Stapel zu legen. Vielleicht bin ich eine aussterbende Spezies. Und garantiert wird schon an einer App gearbeitet, die das Haptische virtuell integriert: Elektronische Eselsohren gibt es schon, demnächst dann auch Vergilben mit Photoshop und virtuelle Kaffeeflecken? Und wenn Gäste kommen, kann man mit einer Besucher-App das komplette elektronische Bücherregal auf dem Fernsehmonitor anzeigen lassen oder in der Vollversion alle Buchrücken auf Tapete ausdrucken und an die Wand hängen.

Als das Fernsehen erfunden wurde und die Zeitungsverleger wegen ihrer Zukunftsperspektiven erstmals kalte Füße bekamen, kursierte der Spruch: „TV wird die Zeitung nie ersetzen. Kein Mensch möchte mit dem Fernsehgerät nach einer Fliege schlagen.“ Auch zum Einwickeln von Fisch sind selbst die neuesten Flachbildschirme gänzlich ungeeignet. Die alte Kulturtechnik des bedruckten Papiers hat unschlagbare Vorteile, auch und gerade für die Verarbeitung im Kopf.

Eine Arbeitsgruppe in den USA testete Journalismus-Studenten, die mit Anfang zwanzig sicher schon zur Generation der Digital Natives gehören. Die eine Hälfte sollte zwanzig Minuten lang die Printausgabe der New York Times lesen. Die andere dieselben Inhalte im Netz. Das Resultat: Die Zeitungsleser memorierten doppelt so viel wie die Onlineleser. Anders gesagt: Die Möglichkeit, alles digital aufzunehmen, ist Gift für unser Gedächtnis und unser selbständiges Denken.

Was nicht gespeichert wird, merkt man sich

Nach einer vielbeachteten Studie besteht der sogenannte Google-Effekt darin, sich nichts mehr richtig einzuprägen, weil man es ja jederzeit wieder neu suchen und finden kann. Betsy Sparrow, Psychologin der Columbia University, ließ Testpersonen zunächst vierzig verschiedene Aussagen von einem Computer ablesen. Der einen Hälfte der Teilnehmer wurde suggeriert, dass der Rechner alles automatisch speichern würde. Die andere Hälfte ging davon aus, dass alles gelöscht würde. Und wer erinnerte am Ende mehr? Die Offliner, also diejenigen Probanden, die dachten, dass der Computer alles löschen würde. Wer überzeugt war, dass der Rechner ohnehin alles abspeichert und verfügbar hält, merkte sich am wenigsten.

Georg Christoph Lichtenberg sagte: „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“ Ja – ich gebe es zu, ich habe den genauen Wortlaut gerade nicht in einem Buch nachgeschlagen, sondern aus dem Internet kopiert, aber ich hatte ihn zumindest ansatzweise im Kopf. Und ich weiß auch immer noch, wo das Lichtenberg-Zitate-Buch in meinem Keller zu finden ist! Wie würde wohl die Variante des 21. Jahrhunderts lauten? „Wenn ein Notebook und ein Kopf zusammenstoßen, und der Akku ist alle, ist es dann immer das Notebook?“

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Unser Gehirn kann Informationen sinnvoll verknüpfen. Das kann ein Computer nicht. Wer etwas anderes behauptet, darf gerne einmal in meinem elektronischen Adressbuch alle doppelten und dreifachen Datensätze manuell herauslöschen. Das würde Tage dauern. Es ist dem doofen Ding nicht beizubringen, dass es sich bei „Erika Mustermann“ und „Mustermann Erika mobil“ um ein und dieselbe Person handelt. Und Festplatten stellen auch keine Fragen! Sie behalten einfach nur. Sie können noch nicht einmal etwas verdrängen oder mit Absicht übersehen.

Was hast Du heute für eine Frage gestellt?

Ich habe einmal Eric Kandel treffen dürfen, Medizin-Nobelpreisträger und einer der größten Gedächtnisforscher. Er wurde in Wien geboren und musste wegen seiner jüdischen Herkunft emigrieren. In einem Interview verriet er sein Erfolgsgeheimnis: „Während die anderen Kinder beim Mittagessen gefragt wurden, was sie denn heute in der Schule gelernt haben, wurde ich gefragt: Was hast du heute in der Schule für eine Frage gestellt?“ Das Geheimnis von weisen Menschen ist, dass sie sich diese Art, alles immer wieder in Frage zu stellen, bewahrt haben. Und dass sie mit derselben Inbrunst seltene Einsichten sammeln, wie früher seltene Briefmarken oder Münzen gesammelt wurden. Gerade weil man sich nichts dafür kaufen kann, sind sie so kostbar.

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Ich habe nichts gegen moderne Technik, ich halte sie nur nicht per se für einen Fortschritt. Ich bewundere Menschen wie den New Yorker Intellektuellen Douglas Rushkoff oder den Computerkritiker der ersten Generation Joseph Weizenbaum, die einen daran erinnern, dass digitale Programme uns oft ihre Sicht der Dinge aufzwingen, ohne dass wir es überhaupt bemerken. Aber was fängt man mit diesen Warnungen an? Brauchen wir schnellere Technik oder langsamere oder gar keine?

Sind wir kurz vor der digitalen Demenz oder schon mittendrin?

Es gibt mittlerweile eine Software, die heißt antisocial. Sie schaltet alle sozialen Netzwerke für bestimmte Zeit aus, weil viele sich sonst darin verlieren. Sind wir kurz vor der digitalen Demenz oder schon mittendrin? Wenn Menschen unter Stress geraten, reduziert sich unsere Reaktion auf drei primitive Möglichkeiten: Kampf, Flucht oder Totstellreflex. Wo will man das Internet packen, um es zu würgen? Man kann sich nur mit ihm herumschlagen, aber es tut ihm nie weh, nur uns! Fliehen geht nur für kurze Zeit. Und an die Stelle des Totstellreflexes tritt die „Abwesenheitsfunktion und automatische Weiterleitung“. Auch keine Lösung. Sollen wir Buchmenschen der fortschreitenden Digitalisierung und Fragmentierung zusehen, uns widersetzen oder hinterherlaufen? Ich bin so ratlos wie beim Autofahren in den Bergen. Gerade, wenn man sich an das Serpentinenfahren gewöhnt hat, taucht eine Warnung auf, das rote, dreieckige Hinweisschild: „Achtung Steinschlag“. Fahre ich jetzt langsamer, um nicht in einen Felsbrocken auf der Straße zu rollen? Oder sollte ich gerade schneller fahren, damit ein just in diesem Moment losrollender Stein mich nicht trifft? Was tue ich? Ich fahre weiter wie gehabt. Nur mit hochgezogenen Schultern.