Essen/Bochum. Viele Menschen pausenlos vor digitalen Medien. Wie man der Überlastung vorbeugt, rät auch ein Experte von der Mediensuchtambulanz in Bochum.

Der Blick in ein Großraumbüro von heute: Überall leuchten die Monitore, viele haben gleich zwei Bildschirme vor sich, neben der Tastatur liegt das Handy, manchmal dazu noch ein Tablet. Informationen prasseln über Messenger, Push-Benachrichtigungen und immer noch übers Telefon auf einen ein. Durch die Digitalisierung sind wir in der modernen Arbeitswelt extremen Medienreizen ausgesetzt.

Das Bombardement reißt nicht ab, wenn Feierabend ist: Wenn wir abschalten könnten, gibt’s ja Facebook, Insta, TikTok, durch die man sich über seine Bekannten und Trends auf dem Laufenden halten kann; wir nutzen das Netz für die Flut von Serien; kochen Abendessen am besten gleich mit einem Youtube-Rezeptvideo – und nehmen das Handy ans Bett, als Einschlafmedium und Wecker… Kein Wunder, dass es irgendwann zu viel wird.

Wenn es zum „Information Overload“ kommt

Autor Volker Busch rät zu weniger Informations-Aufnahme - und einer reflektierten Verarbeitung...
Autor Volker Busch rät zu weniger Informations-Aufnahme - und einer reflektierten Verarbeitung... © oh | Privat

Volker Busch würde sogar noch weiter gehen: Der Neurologe und Psychiater spricht von einer „geistigen Verstopfung“, die wir heute empfinden. Die Folgen sind oft bedenklich: Stress, Hektik, Aufmerksamkeitsdefizite, Konzentrationsprobleme, Gedächtnisschwäche, Ängste. „Man geht davon aus, dass die verfügbare Informationsmenge jedes Jahr um 2,5 Prozent steigt. Und es wird immer schwieriger, aus diesem Ozean an Informationen das für uns Brauchbare herauszufinden. Zwar hat der Mensch schon immer über mehr Informationen verfügt, als er gebrauchen konnte. Aber der entscheidende Unterschied ist, dass die neuen Technologien mobil sind und dass wir sie in der Hosentasche mit uns herumtragen können, also dass sie immer verfügbar sind“, sagt er.

Dabei kann man leicht die Übersicht verlieren: „Nehmen wir an, jemand ist krank und will sich im Internet informieren. Danach ist er so voll mit unterschiedlichen Aussagen von verschiedenen Ärzten, Foren oder Newsgroups, dass er danach nicht mehr weiß, was er machen soll. Eigentlich hatte er gehofft, dass ihm ein paar Informationen die Entscheidung abnehmen. Aber das Gegenteil ist passiert: Man weiß gar nicht mehr, was schwarz und weiß, oben und unten ist. Ein klassisches Beispiel dafür, was wir einen ,Information Overload‘ nennen“, so der Psychiater.

Ein Weg aus der „geistigen Verstopfung“

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Er hat ein Buch geschrieben, das dabei helfen soll, die „geistige Verstopfung“ wieder zu lösen: „Kopf frei!“ heißt es. Oft helfen schon zwei einfache Strategien. Die erste ist die geringere Aufnahme: „Informationen nur ziehen, wenn man sie braucht. Und nur jene, die man wirklich braucht“, so Busch. Die zweite Empfehlung wird manchen überraschen: ein besserer Abfluss. „Davon machen wir viel zu wenig Gebrauch, wie ich immer wieder feststelle. Man muss die Informationen auch mal rauslassen. Wir lassen alles rein, aber nichts mehr raus. Wir sollten uns ein Ventil schaffen. Dass wir abends zum Beispiel die Dinge aufschreiben, die uns bewegen, vielleicht als klassisches Tagebuch – oder einfach mit einem Kumpel drüber reden. Oder vielleicht sogar mit dem Hund, mit dem wir spazieren gehen“, sagt er, denn auch so ein Gespräch hilft, die eigenen Gedanken zu ordnen. Ein zentraler Ratschlag, den Busch in seinem Buch gibt, ist: Die tiefe Stunde täglich, die man für ein solches Resümieren und Ordnen der Gedanken nutzt, aber vielleicht auch, um sich über eine wichtige Angelegenheit konzentriert Gedanken zu machen. Oder bewusst die Gedanken schweifen lässt, um Ideen und Entscheidungen zu finden.

Manchmal führt Mediennutzung auch schon zu Suchtverhalten: „In der klinischen Suchtmedizin gibt es mehrere Kriterien, die erfüllt sein können, wenn jemand zu viel videospielt oder sich zu viel im Internet aufhält. Weil Informationen im Belohnungszentrum unseres Gehirns einen ähnlichen Effekt haben wie andere, süchtig machende Stoffe“, so Busch.

Suchtverhalten erkennen und rechtzeitig reagieren

Jan Dieris-Hirche leitet die Mediensuchtambulanz des LWL-Universitätsklinikums Bochum.
Jan Dieris-Hirche leitet die Mediensuchtambulanz des LWL-Universitätsklinikums Bochum. © Privat

Wenn es einmal so weit gekommen ist, bleibt oft nur, professionelle Hilfe zu suchen, etwa in der Mediensuchtambulanz des LWL-Universitätsklinikums Bochum. Deren Leiter ist Jan Dieris-Hirche: „Die digitale Überlastung ist ein Phänomen, das unser Leben durchdringt. Davon trennen würde ich das Phänomen der internetbezogenen Süchte. Dabei steht eine Suchtproblematik im Vordergrund, die auch etwas mit einem Medium zu tun hat, sei es das Smartphone oder ein besonderes Spiel. Aber auch mit anderen Faktoren: In welcher Lebenssituation bin ich? Wo gibt es vielleicht massive Schwierigkeiten, die ich durch ein suchthaftes Verhalten kompensiere. Das sind ähnliche Prozesse wie bei einem alkoholsüchtigen Menschen. Beim Kompensieren solcher Defizite wird eine Suchtdynamik spürbar, die bei der medialen Überlastung noch keine Rolle spielt“, so der Oberarzt. In der Literatur zum Thema stehen meist Online-Rollenspiele im Vordergrund. Aber auch hier gibt es neuere Entwicklungen: „In unserem Präventions- und Therapieprogramm Ompris, bei dem Menschen Screening-Fragebögen ausfüllen, sehen wir tatsächlich eine Verschiebung. Dass nämlich die Streamingdienste immer mehr zu einer problematischen Nutzung führen. Die Leute sagen: Ich schaue mir über Netflix, Amazon Prime oder Youtube so viel an, eigentlich will ich das gar nicht mehr. Es nimmt viel zu viel Raum ein und ich kann das nicht unterbrechen. Es entsteht ein Leidensdruck bei den Betroffenen“, so der Mediziner.

Medienverträge mit den Kindern

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Suchtverhalten zu verhindern ist vor allem für Kinder und Jugendliche wichtig. Deris-Hirche rät Eltern, die Mediennutzung der Kinder wachsam zu begleiten. „Ich bin ein großer Fan von Medienverträgen, also mit den Kindern und Jugendlichen gemeinsam zu besprechen: Was sind die Grundlagen der Mediennutzung? Was sollst du auch ausprobieren? Aber wenn ich sehe, dass es zu Problemen führt: Was hat das für eine Konsequenz? Wie gehen wir damit um? Damit kann man nicht früh genug beginnen, also spätestens in der dritten Klasse“, so Dieris-Hirche.

Und natürlich, ob jung oder alt, sollte man die eigene Mediennutzung kritisch hinterfragen – und vielleicht einmal ganz ehrlich den Test machen, den der LWL auf seiner Homepage anbietet.

Das Buch von Volker Busch war wochenlang in den Bestsellerlisten. Es heißt: Kopf frei! Wie Sie Klarheit, Konzentration und Kreativität gewinnen, Droemer, 288 S., 18 €. Wer sein Online-Verhalten testen möchte, kann dies beim ­ Ompris-Therapieprogramm des LWL im Internet tun. Falls erhöhter Beratungsbedarf besteht, werden dort auch Online-Therapiesitzungen angeboten. Mehr Informationen unter: onlinesucht-hilfe.com