Hattingen/Köln. Den Deutschen droht eine Epidemie der psychischen Erkrankungen - gerade wegen der Belastungen am Arbeitsplatz. Tipps vom Experten Rolf Schmiel.

Die Deutschen sind ein krankes Volk: Fast 18 Millionen Menschen leiden laut Bundesministerium für Gesundheit an einer psychischen Erkrankung, so viel wie die Einwohner von Nordrhein-Westfalen. Ein großer Teil der Fälle hängt mit psychischen Belastungen am Arbeitsplatz zusammen. Und der volkswirtschaftliche Schaden durch diese Erkrankungen liegt je nach Schätzung zwischen 30 und 45 Milliarden Euro. Für den Hattinger Psychologen Rolf Schmiel (50) gehen bei diesen Zahlen die Alarmsirenen an. „Manche haben immer noch das Gefühl, die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz sei ein Hype. Aber Mental Health ist kein Hype, sondern eine Überlebensstrategie.“ Georg Howahl sprach mit ihm über Fehler, die wir bei der Arbeit machen, über die zu erwartende Epidemie psychischer Erkrankungen – und wie Künstliche Intelligenz den Kampf um geistige Gesundheit unterstützen kann.

Herr Schmiel, wenn man hört, dass die psychischen Erkrankungen in den letzten Jahren zugenommen haben, denkt man: Klar, wir hatten ja die Corona-Pandemie…

Schmiel: Das ist nicht erst seit Corona so. Die Pandemie war zwar ein richtiger Turbo. Aber schon seit die Digitalisierung immer intensiver wird, seit Computertechnologie immer mehr Raum einnimmt, steigt parallel sehr rapide die Anzahl psychischer Erkrankungen. Dabei gibt es zwei Effekte zu beobachten.

Welche wären das?

Er schlägt Alarm in Hinsicht auf die psychischen Erkrankungen: Psychologe, Coach und Speaker Rolf Schmiel (50) aus Hattingen befürchtet eine Epidemie, wenn Arbeitgeber nicht mehr auf die Mental Health ihrer Angestellten achten, auf Pausen und Belastungen.
Er schlägt Alarm in Hinsicht auf die psychischen Erkrankungen: Psychologe, Coach und Speaker Rolf Schmiel (50) aus Hattingen befürchtet eine Epidemie, wenn Arbeitgeber nicht mehr auf die Mental Health ihrer Angestellten achten, auf Pausen und Belastungen. © GUIDO SCHROEDER | Guido Schroeder Fotografie

Es gibt einerseits immer mehr Menschen, die tatsächlich darunter leiden. Und es gibt andererseits den sogenannten Trittbrettfahrer-Effekt, also den einen oder anderen, der morgens keinen Bock hat und sagt: Ich habe Burn-out und bleibe zu Hause. Aber das macht nur einen kleinen Teil aus. Wenn man sich anschaut, wie lange die Patienten behandelt werden, dann sind das nicht irgendwelche Krankschreibungen für den Montagmorgen. Wer an Depressionen oder depressiven Episoden leidet, wird in der Regel zwischen vier und acht Wochen krankgeschrieben. Das macht kein Arzt, kein Neurologe leichtfertig.

Woran liegt es, dass so viele Menschen so ernsthaft erkrankt sind?

Die persönliche psychische Belastung des Einzelnen hat massiv zugenommen. Das liegt vor allem daran, dass wir zu wenige Pausen machen, in denen wir nichts tun. Pausen liegt nämlich in der Verantwortung des Einzelnen. Früher haben die Leute eine Raucherpause gemacht, sie haben in der Gruppe gesprochen, zusammen gestanden, Witze gemacht oder sich über das Erlebte des Arbeitsalltags ausgetauscht. So haben sie sich emotional gestärkt und sich eine Auszeit gegönnt.

Aber so eine Pause kann ich doch heute noch so machen – muss gar nicht mit dem Rauchen beginnen…

Schauen Sie sich an, was die Leute heute mit der Pause anfangen: Sobald auch nur eine Sekunde von Ruhe auftritt, hat jeder sein Smartphone in der Hand. Selbst wenn wir nur auf Instagram durchscrollen, hat das zwei Effekte. a) Wir bleiben mental weiterhin gefordert, unser Hirn kommt nicht zur Ruhe. Und b) Wir gehen nicht in den echten zwischenmenschlichen Austausch.

Das heißt: Menschen tun anderen Menschen gut?

Man weiß ja: Der Mensch ist ein soziales Wesen, das die persönliche Begegnung tatsächlich braucht. Durch die digitale Welt werden aber eher negative Gefühle weiter verankert – weil wir uns in Echoräumen bewegen, die negative Einstellungen bestärken. Und jetzt kommen wir zu den Punkten, wo man sagen muss: Hier versagen sowohl Gesellschaft, Politik als auch Wirtschaft. Denn es gab jahrzehntelang einen wertvollen Puffer, das ist das soziale Auffangnetz: Vereine, Ehrenamt und auch die Kirchen. Alle drei Dinge sind massiv im Rückgang.

Und auch am Arbeitsplatz steigen die Belastungen…

An den meisten Arbeitsplätzen geht es beim Arbeitsschutz darum, dass einem kein Stein auf den Kopf fällt. Wie wichtig Pausen sind, darüber machen sie sich keinen Kopf. Sie haben bezüglich der mentalen Gesundheit die gleiche Einstellung wie Firmenbosse Anfang des 20. Jahrhunderts zur körperlichen Gesundheit. Heute sagt fast jede Führungskraft: Fürs Lebensglück und die Entspannung ist jeder selbst verantwortlich.

Was ist die Folge?

Die Anzahl psychischer Erkrankungen wird weiter rapide zunehmen, bis wir ein echtes Problem haben. Ich bin mir sicher, dass spätestens in fünf Jahren viele Dinge, die heute am Arbeitsplatz wünschenswert wären, verpflichtend sind.

Aber schon heute tun viele Arbeitgeber einiges für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter…

90 Prozent der Maßnahmen, die heute in den Unternehmen zur mentalen Gesundheit durchgeführt werden, haben nur Alibifunktion und sind reine Augenwischerei. Ein Korb grüner Äpfel hat keinen Einfluss auf die Stressbelastung. Oder auf die Ängste, die eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter erleben.

Führt das dazu, dass immer mehr in Therapie gehen?

Schön wär’s. Aber wenn Sie versuchen, als normaler Kassenpatient einen Termin beim Psychotherapeuten zu bekommen, dauert das acht bis zwölf Monate. Es gibt im Gesundheitswesen viel zu wenige Psychologen und Psychotherapeuten – ein Versäumnis der Politik.

So lange schleppen die Menschen ihre Probleme mit sich herum?

Das Verrückte: Wenn Sie heute ein Problem haben, sei es berufliche Überforderung, Belastung in der Partnerschaft und mit Kindern, könnte man Ihnen bei schneller Therapie oft schnell helfen, meist in drei, vier Sitzungen gelöst. Weil man verhaltenstherapeutisch konkrete Tipps an die Hand bekommt, wie man besser mit Situationen umgehen kann. Aber: Wenn einem keiner hilft, verfestigt sich das Problem über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten. Dann braucht es deutlich länger, um aus dem Loch rauszukommen.

Könnte ich schneller gegensteuern?

Es gibt digitale Anbieter, einer von ihnen heißt Instahelp aus Österreich, die ein digitales Netzwerk von Psychologinnen und Psychologen zur Verfügung hat, die am Bildschirm arbeiten. Dort hat man innerhalb von 24 Stunden die Chance, ein Erstgespräch mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin führen zu können.

Aber das zahlt weder die Kasse noch der Arbeitgeber, oder?

Wenn ich entscheiden könnte: Ich warte bis zu zwölf Monate, bis mir endlich geholfen wird und mein Problem gewachsen ist, oder aber ich nutze das jetzt, dann sage ich als Psychologe: Denken Sie darüber nach, ob digitale Therapie nicht eine Chance ist.

­Da hilft also die Digitalisierung...

Wagen wir den Blick in die Zukunft. Für viele wird KI-gestützte Therapie eine Rettung sein. Das klingt heute noch verrückt, ist aber ein Modell gerade für Menschen, die jetzt unter 20 sind und die damit aufwachsen. Weil die KI ähnlich empathisch programmiert ist wie ein Therapeut, aber viel schneller greifbar. Und damit das Bedürfnis, sich etwas von der Seele zu reden, hervorragend auffängt.

Ein bisschen gruselig, oder?

Als vor Jahrzehnten die Telefonseelsorge eingeführt wurde, haben viele auch schon gefragt: Wer soll das nutzen, so anonym von Telefon zu Telefon? Heute ist das absoluter Standard.

Fühlen Sie sich gestresst? Ein einfacher, wissenschaftlich fundierter Online-Test, der einem schnell zeigt, ob die eigene mentale Gesundheit gefährdet ist: www.gratis-stress-test.de

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