Essen. Wie ist es, Mama von einem Kind zu sein, das man nicht geboren hat? Nicole aus Essen hat zwei Pflegekinder – und erzählt von ihren Erfahrungen.

Der Anruf vom Jugendamt kam im Januar 2013. „Der Klapperstorch ist da“, hieß es, und damit ging für Nicole Hemmer und ihren Ehemann ein langersehnter Wunsch in Erfüllung: Sie wurden zu Pflegeeltern eines anderthalbjährigen Mädchens.

Mama sein – das wollte die gelernte Erzieherin nach ihrer Hochzeit unbedingt, doch auf natürlichem Wege funktionierte es zunächst nicht. So entschieden die Hemmers, dass es nicht unbedingt ein leibliches Kind werden müsse, und wandten sich an das Bezirksjugendamt in Essen-Borbeck. Zehn glückliche und herausfordernde Jahre später wird die 42-jährige Essenerin von drei Kindern „Mama“ genannt. Nur die neunjährige Lina* hat sie selbst geboren. Mia* (11) und Lotte* (8) haben zusätzlich noch eine „Bauchmama“.

Essenerin über Pflegekinder: „Wie eine Patchworkfamilie“

„Wir sind wie eine gut-funktionierende Patchworkfamilie“, sagt Nicole Hemmer heute. Auf dem Weg dorthin sei jede Menge Geduld, Empathie und Toleranz gefragt gewesen. Ein Kind, das von seinen leiblichen Eltern getrennt wurde, zeitweise in Bereitschaftspflegefamilien unterkam, sich zum dritten Mal an neue Bezugspersonen gewöhnen muss: „Welches Päckchen wird es zu tragen haben? Wie wird es sich bei uns einleben? Wird es sich normal entwickeln? Wo liegen unsere Grenzen?“

All diese Fragen schwirrten den werdenden Pflegeeltern durch den Kopf, bevor sie Mia zum ersten Mal besuchten. „Es war ein totales Gefühlschaos“, erinnert sich Hemmer. Was sie bestärkte, waren viele Gespräche mit dem Jugendamt, Vorbereitungsseminare und der Kontakt zu anderen Pflegeeltern. Vor allem aber, dass es sich gut anfühlte, spielerisch den Kontakt zu Mia aufzubauen, sie Schritt für Schritt kennenzulernen, bevor sie bei ihnen einzog.

Essenerin Nicole Hemmer und ihr Ehemann haben im Jahr 2012 erstmals entschieden, Pflegeeltern zu werden.
Essenerin Nicole Hemmer und ihr Ehemann haben im Jahr 2012 erstmals entschieden, Pflegeeltern zu werden. © Privat

„Das Zusammenleben hat sich sehr schleichend entwickelt, das war eine echte Herausforderung“, erzählt die Essenerin. „Sie war uns gegenüber sehr vorsichtig, wollte sich nicht direkt in den Arm nehmen und anfassen lassen. Wir mussten uns an ihr Tempo anpassen und das war für uns, die ja darauf gebrannt haben, endlich eine Familie zu sein, erstmal schwer auszuhalten“, sagt sie.

Von Mias leiblicher Schwester Lotte, welche die Hemmers ein paar Jahre später ebenfalls als Pflegekind aufnahmen, wurden sie anfangs noch viel stärker abgelehnt. „Wir wollten sie trösten, wenn sie geweint hat, aber sie hat uns weggedrückt. Das mussten wir akzeptieren, die Beziehung musste wachsen“, erzählt Hemmer.

Essener Pflegemutter: „Die Muttergefühle sind nicht gleich geflutet“

Wachsen musste auch die Liebe in den Eltern. „Zugegeben: Die Muttergefühle sind nicht gleich geflutet“, sagt Hemmer. „Aber das war auch später bei meinem leiblichen Kind nicht der Fall, auch da musste nach der Schwangerschaft erstmal ein neues Band geknüpft werden. So ergeht es vielen Müttern und das ist auch völlig in Ordnung.“

Heute sei die Bindung und Liebe zu ihren Kindern dafür umso stärker und vor allem zu allen dreien gleich intensiv. „Sie haben sich so toll entwickelt“, betont die Mutter stolz. Alle gingen erfolgreich auf eine Regelschule, pflegten Hobbys und Freundschaften, viele Therapien seien mittlerweile beendet. „Ich hätte nicht gedacht, dass sich manche Problematiken so schnell in Luft auflösen.“

Essenerin gibt Beruf auf – für ihre Pflegekinder

Denn Probleme gab es seinerzeit einige. In ihren Beruf konnte die Erzieherin lange nicht zurückkehren. „Mein Alltag bestand erstmal daraus, mich um die Kinder zu kümmern und jedes hatte seine eigene Baustelle“, so Hemmer. Pflegekinder bräuchten besonders in der Anfangszeit mehr Betreuung. Sie entwickeln sich langsamer, haben vielleicht Handicaps oder Lernprobleme. „Die Seele steht schließlich unter Dauerstress, wenn man von Baby auf häufig hin und her gegeben wird“, erklärt sie.

Doch auch ihre leibliche Tochter sei therapiebedürftig gewesen. „Das kann man eben auch bei leiblichen Kindern nie ausschließen“, betont sie. Am Ende wolle man nur, dass es allen Kindern gut geht. Ob leiblich oder nicht, mache da keinen Unterschied. Einen Unterschied macht jedoch, dass Mia und Lotte – im Gegensatz zu ihrer Schwester Lina – immer zwei Familien haben werden: Die, in der sie geboren wurden und die, in der sie aufwachsen.

Kontakt zur Herkunftsfamilie halten

Denn trotz der Angst davor, dass ihre Pflegekinder eines Tages in ihre Herkunftsfamilie zurückkehren könnten, pflegen die Hemmers monatlich den Kontakt. „Mir war es ein Bedürfnis, die leiblichen Eltern kennenzulernen, aber ich hatte großen Respekt davor“, erinnert sie sich. „Die ersten Treffen waren sehr verhalten und still, alle haben nur dem Kind zugeschaut“, sagt sie.

Doch irgendwann habe sich die Stimmung gelockert. Man unterhielt sich, traf sich hin und wieder auf dem Spielplatz, beschenkte sich gegenseitig zum Geburtstag. Es entwickelte sich ein wertschätzendes Miteinander, bei dem auch Hemmers leibliche Tochter Teil wurde.

„Und wenn wir sie länger nicht gesehen haben, haben wir ihnen regelmäßig Fotos geschickt, damit sie einen Anteil am Leben ihrer Kinder haben“, sagt die Pflegemutter. Die leiblichen Eltern werden sie schließlich immer sein, daran werde sich nichts ändern.

*Namen der Kinder geändert

http://Textbaustein-_Wochenende_NRW_Linkliste_Familienthemen{esc#237914977}[textmodule]