Essen. Ein Kind zu haben macht nicht alle Mütter glücklich. Eine Betroffene und eine Psychologin erklären das Phänomen und wie man damit umgehen sollte.

Von ihrem Glück war Laura (Name geändert) überwältigt, als sie 2016 ihr erstes Kind bekam. „So muss sich die einzig wahre Liebe anfühlen und etwas Größeres kann es nicht geben“, hat die 35-Jährige damals gedacht. Heute gibt es Momente, in denen sie es bereut, Mutter geworden zu sein.

Wenn Mütter dauerhaft Reue empfinden, ist von „Regretting Motherhood“ (Bedauern der Mutterschaft) die Rede. Mit ihren Gefühlen ist Laura nicht allein, wie Studien zeigen. Dennoch ist das Thema oft noch ein gesellschaftliches Tabu. Im Gespräch mit dieser Zeitung gibt Laura Einblicke in ihre Gefühlswelt.

Das Leben stand still, soziale Kontakte spielten sich zum großen Teil in der digitalen Welt ab, Schulen und Kitas waren geschlossen: Mitten im Corona-Lockdown brachte Laura ihre Tochter zur Welt. „Die Corona-Zeit hat alles verändert“, sagt sie. Früher, als es nur sie und ihren Sohn gab, war Laura eine entspannte und ausgeglichene Mutter. Heute ist sie angespannt, wird schnell nervös und steht unter Stress.

Während sie sich um ein Kleinkind und einen Säugling kümmern musste, konnte sie im Lockdown kaum noch machen, was sie am Muttersein liebte. Spaziergänge und Ausflüge zum Spielplatz waren nicht mehr möglich. Und ihr Mann war durch die Pandemie mehr von der Arbeit eingespannt als vorher. Mit den beiden Kindern war sie oft allein. Ihr Sohn konnte auf einmal nicht mehr in den Kindergarten gehen. „Alles, was seinen Alltag gestützt hat, war weg. Bis auf mich. Und selbst ich war nicht mehr so für ihn da wie vorher.“

Regretting Motherhood: Rund 50 Prozent der deutschen Eltern haben Verständnis

Man könne bei ihr von zwei Mutterpersönlichkeiten sprechen, sagt Laura. „Die Mutter, die ich vor der Pandemie war. Und die Mutter, die ich geworden bin.“ Es sind vor allem stressige Situationen im Alltag, in denen sie merkt, dass sie anders mit ihrer Mutterrolle umgeht. Wenn sie sich zwischendurch keine Pause nehmen kann, bekommt sie schnell Herzrasen.

Zu ihrem Mann hat sie einmal gesagt: „Ich liebe meine Kinder, aber ich hasse es manchmal Mutter zu sein.“ Denn sie könne sich kaum noch selbstverwirklichen. Es gibt Momente, in denen Laura Menschen beneidet, die keine Kinder haben. „Es ist nicht so, dass ich mir wünschte, meine Kinder wären weg. Aber ich vermisse diese Freiheit“, sagt sie.

„Ich liebe meine Kinder, aber ich hasse es manchmal Mutter zu sein“, hat Laura (Name geändert) einmal zu ihrem Mann gesagt.
„Ich liebe meine Kinder, aber ich hasse es manchmal Mutter zu sein“, hat Laura (Name geändert) einmal zu ihrem Mann gesagt. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Ähnlich wie Laura geht es auch anderen Eltern. Laut einer Umfrage des internationalen Meinungsforschungsinstituts YouGov aus dem vergangenen Jahr würden sich 20 Prozent der deutschen Eltern heute gegen Kinder entscheiden. Knapp ein Viertel sagt, die Pandemie hätte sie bei der Erziehung der Kinder an ihre Grenzen gebracht. 53 Prozent der Befragten können es laut Umfrage nachvollziehen, dass Frauen ihre Mutterschaft schon mal bereuen.

Gender Care Gap: Sorgearbeit wird weniger wertgeschätzt

Von der Gesellschaft fühlt sich Laura unter Druck gesetzt: Wenn sie nicht arbeitet, wird sie als faul abgestempelt. Aber arbeiten gehen als Mutter? Wenn dann bitte nur in Teilzeit. Denn sie müsse ja für die Kinder da sein. Erwartungshaltungen wie diese belasten die 35-Jährige. Gleichzeitig hat sie das Gefühl, die Sorgearbeit, die sie zuhause leistet, werde weniger wertgeschätzt. Laut Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung verbringen Frauen im Alter von 34 Jahren durchschnittlich neun Stunden pro Tag mit unbezahlter Sorgearbeit, während es bei Männern nur etwa drei Stunden sind.

Die Psychologin und Familientherapeutin Nina Grimm sagt, solche gesellschaftlichen und sozialpolitischen Hürden könnten die Reue-Gefühle begünstigen. „Aus meiner Sicht ist es ein Problem, dass Mütter und Väter kein Gehalt bekommen, wenn sie Kinder großziehen. Denn sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft und zur Zukunft“, sagt sie. Das kulturelle Bild von Mutterschaft sei außerdem noch heute mit der Vorstellung von freier Zeit verbunden, die keine Anstrengung und Mühe koste. Gleichzeitig gebe es die extreme Rollenerwartung, dass Mutterschaft die pure Erfüllung sein müsse, so die Psychologin. „Das ist ein Spannungsfeld, das bei vielen Frauen zu Erschöpfung und geringen Selbstwertgefühlen führen kann.“

Mit dem Bild einer Mutter, die zuhause bleibt, statt zu arbeiten, kann sich Laura nicht identifizieren. Bevor sie ihre beiden Kinder bekam, hat sie sich selbst als berufstätige Mutter gesehen. Denn sie möchte weiterhin arbeiten gehen. Und das tut sie auch: Heute ist sie in Vollzeit beschäftigt. Doch sie habe den Eindruck, weniger auf dem Arbeitsmarkt wert zu sein als vor der Mutterschaft. Jetzt sei es schwieriger, einen Job zu finden.

Regretting Motherhood: Wenn sich die Mutterrolle fremd anfühlt

Wenn Laura der Gedanke kommt, dass sie ihre Mutterschaft bereut, plagt sie ein schlechtes Gewissen. „Ich fühle mich wie eine Versagerin.“ Der Vergleich mit anderen Müttern macht ihr zusätzlich Druck. Sie zweifelt dann an sich selbst und hinterfragt, ob die Mutterschaft der richtige Weg für sie war.

Nina Grimm versteht unter dem Bereuen der Mutterschaft die Schwierigkeit, sich mit der Mutterrolle zu identifizieren. „Oft schildern die Betroffenen, dass sich ihr Kind wie ein Fremdkörper anfühlt“, sagt sie. Das Gefühl, ständiger Fremdbestimmung, das Vermissen der alten Zeit oder das Gefühl, nicht mehr man selbst zu sein, ließen sich dem Phänomen zuordnen.

„Diese Sehnsüchte kennt jede Mutter. Bei ,Regretting Motherhood‘ kommt die Schwierigkeit hinzu, in die Rolle hineinzufinden“, betont Grimm. „Wenn ein Rollenwechsel ansteht und man nicht in der Lage ist, diesen vorzunehmen, können daraus ernsthafte psychische Belastungen entstehen.“ Dem Reue-Gefühl könnten sich chronische Erschöpfung, Depressionen, Ängste oder soziale Phobien unterordnen.

Psychologin und Familientherapeutin Nina Grimm versteht unter Regretting Motherhood die Schwierigkeit, sich mit der Mutterrolle zu identifizieren.
Psychologin und Familientherapeutin Nina Grimm versteht unter Regretting Motherhood die Schwierigkeit, sich mit der Mutterrolle zu identifizieren. © Dominik Pfau

„Regretting Motherhood“ bedeute jedoch nicht, die eigenen Kinder nicht zu lieben, betont Grimm. Die Reue-Gefühle können jedoch zu einer emotionalen Distanz führen. „Das kann einen Einfluss auf den eigenen Bindungsstil der Kinder haben – also darauf, wie sie später selbst Beziehungen führen“, so die Psychologin. Daher sei wichtig, dass Kinder eine andere emotionale Bezugsperson haben, wie zum Bespiel der Vater oder die Großeltern.

Reue-Gefühle: Diese Auswege gibt es

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Das Bedauern der Mutterschaft ist bisher kaum erforscht. Deswegen sei es schwer, Ursprünge dafür zu benennen. Als Familientherapeutin hat Grimm schon bereuende Frauen beraten, die als Kind eine traumatische Beziehung zu ihren Eltern hatten. „Das kann zum Beispiel durch eine Vernachlässigung oder Sucht entstanden sein.“ Eine solche Beziehung könne zwar ein Grund für das Bedauern der eigenen Mutterschaft sein, muss es aber nicht, betont sie. Es gebe auch Betroffene, die eine gute Kindheit hatten. Die Gründe für die Entstehung seien vielseitig. Eine angespannte Lebenssituation könne ebenfalls zum Bereuen führen, wie zum Beispiel ein aggressiver Partner oder die Umstände der Corona-Pandemie.

Aus dem Bedauern der Mutterschaft gibt es Auswege. „Die Reue muss nicht dauerhaft bleiben“, sagt Grimm. Der wichtigste Schritt sei es, die Gefühle anzuerkennen. „Betroffene Mütter müssen einen Raum bekommen, in dem sie das Gefühl frei von Stigmata und Bewertungen fühlen dürfen.“ Außerdem sollten Frauen sich bewusst sein, dass Mutterschaft viele Facetten hat. An der Stelle sollten sie schauen, wie sie ihre Mutterschaft bereits erfüllen. Eine gute Zuhörerin und empathisch zu sein oder auf eine gesunde Ernährung zu achten, seien bereits solche Facetten.

Auch das Umfeld betroffener Mütter spielt eine Rolle. Familie und Freunde sollten zunächst wertfrei zuhören. „Es kommt nicht darauf an, das Problem direkt lösen zu wollen“, so die Psychologin. Wichtiger sei, zu erfassen, wie sich die Welt der Betroffenen anfühlt und die Gefühle anzuerkennen. Psychologische oder familientherapeutische Hilfe sollte gesucht werden, wenn die Betroffene ihren Alltag nicht mehr bewältigen kann.

Spricht Laura über ihre Gefühle und Gedanken, hat sie den Eindruck, ernst genommen zu werden. Ihre Lösung ist es, sich bewusst Pausen vom Alltag zu nehmen und mal an sich selbst zu denken. „Trotzdem liebe ich meine Kinder“, sagt sie. Und sie hat ein gutes Verhältnis zu ihnen. Die Entscheidung Mutter zu werden war eine Bewusste, die sie auch heute noch treffen würde. „Aber wahrscheinlich würde ich es anders planen.“