Neuss. Seit über 100 Jahren gibt es Pfadfinder. Ein Stammesbesuch in Neuss zeigt, was Pfadfinden heute vielleicht sogar angesagter denn je macht.
Konzentriert bohrt Nora mit einem Akkuschrauber einen Nagel nach dem anderen in den Holzscheit, der vor ihr auf dem Boden liegt. Die 12-Jährige misst Abstände aus, sägt den nächsten Holzscheit zurecht und wird dabei kritisch vom 13 Jahre alten Leon beobachtet. Aber Nora lässt sich nicht von ihrem Umfeld ablenken. Im Hof spielen mehrere Jungen zusammen Fußball, in der Ecke daneben wirft Konstantin gerade eine vertrocknete Tanne auf das Lagerfeuer. Schon nach kurzer Zeit wird klar: Die Gruppe der zehn bis 13-jährigen Jugendlichen, die sich hier einmal die Woche trifft, ist bunt gemischt – und hält dennoch zusammen.
In der Natur zelten, Feuer machen, Kekse verkaufen: Beim Stichwort „Pfadfinder“ haben die meisten Menschen bestimmte Bilder im Kopf. Die nach eigenen Angaben „größte Jugendbewegung der Welt“ vereint seit dem Jahr 1907 Kinder und Jugendliche aus derzeit über 174 Ländern. Damals zeltete Lord Robert Baden-Powell in England mit 21 Jungen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten auf der kleinen Insel Brownsea Island und legte damit den Grundstein für die Pfadfinderbewegung. Doch wie angesagt ist Pfadfinden 116 Jahre später, in unserer immer digitaler werdenden Welt?
Naturverbundenheit als zentrales Element der Pfadfinderbewegung
Wir sind zu Besuch bei den Jungpfadfindern der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg (DPSG) in Neuss. Heute wollen die neun Kinder und Jugendlichen sowie drei Gruppenleiter Schwedenstühle bauen. Konstantin (11) erklärt: „Das sind Holzstühle, die wir selbst zusammenschrauben und sogar mit nach Hause nehmen dürfen. Die Stühle kann man praktisch zusammenklappen und an den Rucksack hängen. Damit kann ich mich im nächsten Urlaub überall hinsetzen“.
Kleine Projekte wie dieses stehen bei den Gruppentreffen der DPSG im Vordergrund. Mit rund 82.000 bundesweiten Mitgliedern ist der Pfadfinderverband der größte in Deutschland, der Stamm in Neuss ist einer von insgesamt über 1400. Obwohl der Verband schon vor 94 Jahren gegründet wurde, ist er laut Bundesvorstand Joschka Hench noch lange nicht altbacken.
Auch in einer Welt voller Smartphones und Tablets sei es kein Problem, Kinder für die Natur zu begeistern. „Ganz im Gegenteil“, erklärt Hench. „Mit dem steigenden gesellschaftlichen Bewusstsein für Nachhaltigkeit und Umwelt steigt auch das Interesse am Pfadfinden, da wir schon immer sehr naturverbunden waren und heute umso mehr sind.“
Pfadfinden soll Persönlichkeitsentwicklung fördern
Beim Bauen der Schwedenstühle sprechen die Neusser Pfadfinder über den Ausflug am vergangenen Wochenende. An den Wänden des Gruppenraumes hängen bereits Bilder von zahlreichen vergangenen Ferienlagern und Ausflügen. Dieses Mal waren die „Juffis“, wie sich die Jungpfadfinder selbst nennen, zwei Tage lang in der Eifel unterwegs. „Wir sind insgesamt 37 Kilometer gewandert. Übernachtet haben wir in einer Jugendherberge und zum Abschluss des Wochenendes sind wir noch im Schwimmbad gewesen“, berichtet Leon begeistert.
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Wichtigstes Ziel der Pfadfinderbewegung sei es heute wie früher, die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen zu unterstützen. Bundesvorstand Hench erklärt: „Unsere Pfadfinder machen ihre eigenen Erfahrungen und lernen daraus, wie sie mit Problemen umgehen können“. Anders als beispielsweise im Sport gebe es keinen Leistungsgedanken, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Vielmehr werde geschaut, „welche Aktivitäten für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen am passendsten sind, damit sie sich selbstverwirklichen können.“
Von den „Wölflingen“ bis zu den „Rovern“: So sind Pfadfindergruppen unterteilt
Um altersgruppengerechte Aktivitäten anbieten zu können, sind die einzelnen Pfadfinderstämme in verschiedene Altersgruppen eingeteilt: die jüngsten Mitglieder zwischen sechs und zehn Jahren gehören zu den „Wölflingen“, danach folgt die Stufe der „Jungpfadfinder“ (neun bis 13 Jahre). Die „Pfadfinder“ bilden die dritte Gruppe zwischen zwölf und 16 Jahren, zum Abschluss folgen die „Rover“ (15-20 Jahre).
Ein Mitbestimmungsrecht der Kinder und Jugendlichen sei bei allen Stämmen zentral. „Die Kinder sagen uns, worauf sie Lust haben und wir versuchen, das umzusetzen“, erzählt Wolfgang, der die „Juffi“-Gruppe in Neuss leitet.
Die Gründe, warum sich die Kinder und Jugendlichen den Neusser Pfadfindern angeschlossen haben, sind vielfältig. Die zwölfjährige Sigrun ist bereits seit fünf Jahren dabei. Ihr Bruder habe durch einen Zeitungsartikel von den Pfadfindern erfahren, und als sie alt genug war, wollte sie ebenfalls mitmachen. Justus (11) hat vor zwei Jahren bei den Wölflingen angefangen und wurde durch seinen Nachbarn auf die Pfadfinder aufmerksam.
Spaß mache den beiden „alles, aber besonders die Sommerlager“. Sigrun erzählt aufgeregt: „In den Sommerferien fahren wir alle zusammen zelten, mein Bruder war sogar schon in Schweden.“ Auch in Südafrika, Irland oder Dänemark fanden schon Zeltlager statt, wie Teamleiter Wolfgang erzählt.
Campinglager ohne Strom und Gas: „Gegensatz zum Luxus, in dem wir leben“
Bei Ausflügen der DPSG steht oft die Verbundenheit zur Natur und Wertschätzung der Umgebung im Vordergrund – so gibt es beispielsweise bei Zeltlagern keinen Strom und kein Gas. „Das schafft einen Gegensatz zum Luxus, in dem wir zu Hause leben“, so Joschka Hench. Die Kinder und Jugendlichen erleben beispielsweise, wie aufwendig es ist, Essen zuzubereiten, wenn kein Supermarkt in der Nähe ist. „Sie lernen den Wert der Lebensmittel durch diese Erfahrungen neu kennen, das entspricht wieder unserem Gedanken des Erfahrungslernens“. Diese Erlebnisse prägten die Kinder oft für ihr ganzes Leben.
Bei Ausflügen immer dabei: Die beige Pfadfinder-Kluft mit bunten Abzeichen und einem zusammengeknoteten Halstuch. Die Farbe des Halstuchs und der Abzeichen zeigt, zu welcher Altersgruppe ein Pfadfinder gehört. Leon fährt mit seinem Finger stolz über eine blaue Lilie auf seinem Hemd und erklärt: „Blau bedeutet, dass wir zu den Jungpfadfindern gehören. Und die ganzen anderen Abzeichen bekommen wir, wenn wir bei einem Sommercamp dabei sind.“
Mit der einheitlichen Kleidung wolle man laut Bundesvorstand verdeutlichen, dass die soziale Herkunft einer Person keine Rolle spiele. „Egal, ob arm oder reich: Wir sind eine Gemeinschaft und alle gleichberechtigt.“
Auch wenn die Pfadfinder allgemein als Jugendbewegung gelten: Mitmachen können auch Erwachsene. Volljährige „Pfadis“ engagieren sich in der Regel ehrenamtlich als Gruppenleiter – so wie Ulli, der seit 2020 die „Juffis“ in Neuss leitet. „Die Kinder und ich können hier einfach wir selbst sein, das liegt mir am meisten am Herzen.“
Gruppenleiter: „Viele Menschen denken, wir backen den ganzen Tag nur Kekse“
Vorurteile gebe es viele, doch nur die wenigsten stimmten. Gruppenleiter Wolfgang führt aus: „Viele Menschen denken, wir backen den ganzen Tag nur Kekse oder gehen wandern. Das machen wir zwar auch ab und zu, aber unser Programm ist viel abwechslungsreicher. Und genau das wissen die Kinder zu schätzen: Sie können immer wieder neue Sachen ausprobieren, sodass für jeden etwas dabei ist.“
Dass Pfadfinden auch in unserer digitalen Welt noch lange nicht „out“ ist, zeigt sich auch bei einem Blick auf die Neuanmeldungen: In einigen Stämmen gibt es lange Wartelisten, insbesondere bei den Wölflingen. Problematisch sei laut Bundesvorstand Hench der Mangel an ehrenamtlichen Leitern, um die hohe Nachfrage zu bedienen.
Und es gebe noch ein weiteres Problem: „Der Wert von außerschulischer Jugendarbeit wird aus meiner Sicht oft verkannt. Wir leisten einen wichtigen Bildungsbeitrag für die Kinder- und Jugendarbeit, aber wenn es um die Verteilung von Fördermitteln geht, werden wir nur wenig berücksichtigt.“ Dennoch versuche man, den Kindern ihre Wunschprojekte, so gut es eben gehe, zu ermöglichen.
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