Düsseldorf. . Anna Warren (31) ist Mutter einer kleinen Tochter. Seit der Geburt hat sich ihr Leben radikal verändert. Über die Schattenseiten des Mutterseins.

Es geschah im fünften Monat der Schwangerschaft. Anna Warren erwartete Zwillinge, als ihr Bild vom perfekten Mutterglück zum ersten Mal einen tiefen Riss bekam. Bei einem Besuch im Krankenhaus, eigentlich eine Routineuntersuchung, stellten die Ärzte unerwartet fest, dass eines ihrer beiden Kinder nicht mehr am Leben ist. Die Frage nach dem Warum konnte ihr niemand beantworten, stattdessen erfuhr die 31-Jährige: Mit dem plötzlichen Tod ihres Kindes würde auch das Schicksal des Zwillings bis zur Geburt ungewiss bleiben.

„Man wusste nicht: Stößt der Körper jetzt beide Babys ab?“, erinnert sich Warren heute. Von jenem Moment an sei die so große Vorfreude schlagartig fort gewesen, für die werdende Mutter begann eine Phase der Angst. Beide Kinder mussten im Bauch bleiben, das Risiko einer OP war zu groß. „Ich habe bis zum Ende gezittert, konnte nichts mehr genießen“, schildert sie rückblickend. „Immer konnte etwas passiert sein, eine unglaublich harte Zeit“ – und ein Wendepunkt in ihrem Leben.

Auf das erste Glück folgt Überforderung

Schon damals habe sie gemerkt: Ihre naive Vorstellung – man wird schwanger, bringt neun Monate später ein gesundes Kind zur Welt und kann das eigene Glück kaum fassen – ist nicht selten eine Illusion. „Es ist nicht natürlich und selbstverständlich, dass alles so abläuft, wie man sich das vorstellt“, weiß Warren inzwischen. Und wundert sich: „Fast jede Frau in meinem Umfeld hatte schon eine Fehlgeburt. Aber das ist ganz offensichtlich ein Thema, über das kaum jemand spricht, schon gar nicht in der Öffentlichkeit.“

Im August des vergangenen Jahres brachte sie schließlich eine gesunde Tochter zur Welt: die kleine Rosa. Seither, sagt Warren, habe sich ihr Leben radikal verändert. Die Erleichterung über das gesunde Töchterchen sei schnell einem Gefühl totaler Überforderung gewichen. Besonders überrollt habe sie das Thema Stillen. „Da habe ich zum ersten Mal gedacht: Warum hat mir eigentlich nie jemand gesagt, wie schwierig und anstrengend das ist?“ – Alle zwei Stunden, Tag und Nacht, „ein Vollzeitjob“. Nicht nur körperlich, auch mental eine große Belastung.

„Schlafmangel ist noch die geringste Sorge“

Einzig zwei Freundinnen, selbst zweifache Mütter, hätten sie vorab auf die negativen Seiten des Mutterseins hingewiesen, ihr gesagt: „Anna, überleg’ dir das gut. Es ist wirklich extrem anstrengend.“ Aber die junge Mutter gibt zu: „Man blendet das völlig aus. Und schon im nächsten Moment geht es wieder darum: In welcher Farbe will ich eigentlich das Kinderzimmer streichen?“

Vollzeitjob Mutter: Für die eigenen Belange bleibt am Tag nur noch wenig Zeit, sagt Anna.
Vollzeitjob Mutter: Für die eigenen Belange bleibt am Tag nur noch wenig Zeit, sagt Anna. © Fabian Strauch

Erst als ihre Rosa, heute neuneinhalb Monate alt, auf der Welt war, habe sie das gesamte Ausmaß der neuen Lebensaufgabe begriffen. Besonders frustrierend sei derweil die Tatsache, dass sie so gut wie nichts mehr für sich selbst tun kann: „Mit einem Säugling ist man permanent auf Abruf, kann keinen Gedanken zu Ende bringen, immer ist irgendetwas.“ Bis sie abrupt in Mutterschutz ging, hatte die gebürtige Düsseldorferin einen „Power-Alltag“, wie sie selbst sagt, arbeitete Vollzeit in einer Werbeagentur. Und genoss es in ihrer Freizeit, auch mal Dinge allein zu unternehmen: ins Kino gehen, lesen, Musik machen. Doch all das ist bis auf Weiteres Geschichte.

Entgegen ihrer ersten Vermutung weiß Warren längst: „Schlafmangel ist noch die geringste Sorge. Am allermeisten fehlt mir die freie Zeit.“ Auch nach bald einem Jahr fühlt sie sich oft fremdbestimmt, kann kaum einmal tief durchatmen. „Im Prinzip ist Rosa mein Chef. Aber eben einer, der keine Pausen erlaubt, unberechenbar ist“, beschreibt sie das Verhältnis zu ihrer Tochter, trotz großer Liebe und Dankbarkeit. Als Individuum bleibe sie weitgehend auf der Strecke, auch wenn ihr Mann Adam (34) sie unterstützt, wo es nur geht.

Ein Kind stellt auch die Partnerschaft auf die Probe

In den ersten zwei Monaten nach Rosas Geburt nahm er sich Elternzeit, half seiner Frau, war immer dabei. Für Anna ein großes Glück. Wie andere Mütter diese Zeit, gerade die Anfangsphase, ganz ohne den Partner meistern, ist ihr ein Rätsel. „Vor allem in den ersten Monaten, wenn man stillt, denkt man sehnsüchtig an sein altes Leben zurück“, berichtet sie. Auch Konflikte mit dem Partner seien neuerdings an der Tagesordnung – etwa ein halbes Jahr hätten Adam und sie kaum einmal Zeit für sich, für ihre Beziehung gehabt. „Man muss echt gefestigt sein“, sagt Warren, „ein Kind stellt auch die Partnerschaft auf eine harte Probe.“

Die Baby-Euphorie anderer Mütter kann sie verstehen, aber nur bedingt teilen, zu gut erinnert sie sich noch an das Leben davor, ohne Kind. Wenn ihr Mann, längst zurück im Arbeitsalltag, am Abend nach Hause kommt, sei sie „fix und fertig“ – ohne viel geschafft zu haben, wie sie es empfindet. Angesichts ihres Tatendrangs ein unbefriedigendes Gefühl. „Erst jetzt weiß ich, dass Kinder nicht der Schlüssel zum Glück sind“, sagt sie. Und fügt an: „Früher dachte ich anders, nun aber ist mir klar: Es gibt auch viele Dinge im Leben, die nicht mehr möglich sind.“

Im Sommer steht der erste Urlaub zu dritt an

Was sie rückblickend anders gemacht hätte? „Vielleicht noch etwas gewartet“, überlegt Warren. „Und, so klischeehaft das klingen mag, vorher noch mehr für mich selbst getan, eine lange Reise zum Beispiel.“ Von Reue aber will die junge Mutter nicht reden, ohnehin sei der ideale Zeitpunkt ein schwieriges Thema.

Bei aller Last und Überforderung, sagt sie, zeige sich erst mit der Zeit, „dass es das alles wert ist“. So entwickle die kleine Rosa allmählich eine Persönlichkeit, weise Ähnlichkeit zu ihr oder Adam auf, lächle viel und werde zusehends selbstständiger. Auch dadurch wachse die Bindung zu ihrer Tochter. „Im Sommer fahren wir zum ersten Mal zu dritt in den Urlaub“, erzählt Warren, „von so etwas habe ich immer geträumt. Ich freue mich riesig darauf – aber es ist eben nicht so, dass man sich mit einem Buch ans Meer legt und liest.“

>>> Ihre Erlebnisse als Mutter teilt Anna auf Instagram

Die Fehlgeburt im Frühjahr 2018 war für Warren ein einschneidendes Erlebnis. Schon kurz darauf habe sie gespürt, dass sie das Thema nicht loslässt, sie großen Redebedarf hat. Seither nutzt die Düsseldorferin die Fotoplattform Instagram, um ihre Gedanken und Erfahrungen mit anderen zu teilen. „In der Gesellschaft wird das Thema Kinderkriegen zumeist runtergespielt, gilt als selbstverständlich. ‚Das passiert halt einfach‘. Dabei ist es so viel mehr als das“, findet die junge Mutter.

Gleich auf ihre ersten Beiträge habe sie haufenweise Nachrichten erhalten, gerade Mütter hätten ihr geschrieben: „Ich habe auch mal so etwas durchgemacht!“ oder „Danke, dass du das ansprichst!“. Die Masse an Zuschriften habe sie überrascht, ihr aber auch gezeigt: Es gibt eine Vielzahl an Frauen, die Ähnliches erlebt haben – aber nur einen Bruchteil, der dies auch kundtut.

„Regretting Motherhood“: Studie aus Israel machte den Anfang

Im Jahr 2015 hatte die israelische Soziologin Orna Donath als Erstes öffentlich auf die Schattenseiten des Mutterseins aufmerksam gemacht.

In ihrer Studie mit dem Titel „Regretting Motherhood“ (dt.: Bedauern der Mutterschaft) äußerten sich zahlreiche Frauen kritisch über ihre Rolle als Mutter – und lösten damit auch hierzulande eine kontroverse Debatte aus.

Inzwischen schreibt Warren in regelmäßigen Abständen über ihr Leben als Mutter, lässt dabei auch die Schattenseiten nicht aus. Beinahe alle Reaktionen, die sie bekommt, stammten von Müttern, die sagen: „Mir geht es genauso. Ich kann mich total damit identifizieren.“

Wenngleich es gewiss auch zahllose glückliche Mütter gebe, stimmt Warren das große Echo nachdenklich: „Ich dachte lange, dass ich mit meinen Problemen alleine bin“, sagt sie, „aber vielleicht trauen sich bloß viele Frauen nicht, auch die negativen Seiten offen anzusprechen.“

Gründe dafür gebe es viele, weiß sie aus eigener Erfahrung: Angst vor gehässigen Fragen („Warum hast du dann ein Kind gekriegt?“) oder ein schlechter Eindruck beim Arbeitgeber. „Man will ja nicht das Gefühl vermitteln, nicht mehr belastbar zu sein.“ Einige Mütter, ist Warren sicher, würden daher ein falsches Bild aufrechterhalten. Mit ihren Posts wirbt sie für mehr Offenheit.

Das Instagram-Profil von Anna finden Sie hier.