Essen. Als er die Diagnose Multiple Sklerose bekam, änderte Holger Lemmens aus Essen sein Leben. Wie ihm auch das Joggen hilft.
Auf Holger Lemmens linkem Oberarm ist eine Zahl verewigt. Die 42. Er hat sie sich tätowieren lassen, als er Anfang 20 war und nur noch ein Gedanke sein Leben bestimmte: „Ich werde bald sterben.“ Denn das bedeutete die Diagnose Multiple Sklerose, kurz MS, damals noch. „Das war ein Schock“, erinnert sich Lemmens – der sich ein Ziel setzte: 42 Jahre alt zu werden.
Heute nimmt Lemmens auf einer Liege im Behandlungszimmer im Universitätsklinikum Essen Platz. Mit einem kleinen, metallenen Hammer klopft Neurologe Refik Pul gegen seinen Fuß, nimmt dann sein Bein in die Hand, um es zu beugen. „Das klappt ja gut“, sagt er. Im vergangenen Jahr hat Holger Lemmens seinen 50. Geburtstag gefeiert und fühlt sich fitter denn je. Er joggt jede Woche mindestens 40 Kilometer, läuft einen Halbmarathon in weniger als zwei Stunden. Doch bis dahin war es ein langer Weg.
Essener erkrankt mit Anfang 20 an MS
Rückblick: Mit Anfang 20 stürzte Holger Lemmens beim Inlineskaten. Eigentlich zog er sich keine schlimmen Verletzungen zu, doch sein Bein fühlte sich eine ganze Zeit lang wie gelähmt an, erzählt er: „Ich bin einfach weiter rumgehumpelt, bis mir irgendwann Freunde gesagt haben: Du musst zum Arzt gehen.“
Dass er MS hatte, fanden die Ärzte schnell heraus. Sie gaben ihm Kortison, die Lähmungen bildeten sich zurück. „Man hat mir gesagt, dass es wiederkommen kann, aber nicht muss.“ MS ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems. „Das Immunsystem richtet sich gegen die Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark“, erklärt Christoph Kleinschnitz. Er leitet die Neurologie der Universitätsklinik Essen, betreut Lemmens seit Jahren zusammen mit seinem Kollegen Pul.
Bundesweit sind laut Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft mehr als 250.000 Menschen an MS erkrankt. Noch ist unklar, was genau die Krankheit auslöst, so Pul: „Seit mehr als 100 Jahren ist bekannt, dass die MS zu einer Schädigung der Nervenhülle führt. Dadurch kommt es zu neurologischen Ausfallerscheinungen. Auch Umweltfaktoren wie Viren oder die Sonneneinstrahlung spielen eine Rolle, ebenso die Gene.“
Da MS in Schüben verläuft und die Symptome von Patient zu Patient sehr unterschiedlich sind, wird sie auch „die Krankheit der 1000 Gesichter“ genannt. Bei den meisten Betroffenen treten motorische Störungen, wie Lähmungen oder Sehstörungen sowie Gefühlsstörungen der Haut auf. „Wenn ich eine Kaffeetasse oder ein Blatt Papier gehalten habe, hat meine Hand total gezittert“, sagt Lemmens im Rückblick.
Uni-Klinik Essen: Antikörpertherapie gegen MS
Auch seine Arme und Beine haben sich immer wieder taub angefühlt, er verlor schnell das Gleichgewicht. Die Krankheit bedeutete für den freiberuflichen Fotografen und Kommunikationsdesigner nicht nur regelmäßige Krankenhausbesuche samt Spritzen, Infusionen und Tabletten. Er stellte sein ganzes Leben um, reduzierte Stress, lernte, auf seinen Körper zu achten und Nein zu sagen.
2016 schlug ihm Doktor Pul dann eine neue Form der Behandlung vor: eine Antikörpertherapie. Dabei werden sämtliche weiße Blutkörperchen, die für die Immunabwehr im Körper zuständig sind, zerstört. So wird das Immunsystem resettet, also weitestgehend zurück auf Null gesetzt. Aus dem Knochenmark heraus müssen sich dann neue Zellen bilden. Diese haben keine Prägung, das heißt, sie greifen auch nicht das Rückenmark oder Gehirn an.
„Der Anteil schädigender Zellen nimmt dadurch insgesamt ab“, erklärt Pul. Die Behandlung sei vergleichbar mit einer Chemotherapie, allerdings in niedriger Dosierung. Trotzdem können Nebenwirkungen auftreten: Es kann etwa zu Ausschlag oder Blutungen kommen, die Schilddrüse und Niere können geschädigt werden.
All das nahm Lemmens in Kauf, schließlich war zu dieser Zeit seine „Gehfähigkeit massiv in Gefahr“, sagt sein Neurologe Pul: „Der Rollstuhl stand am Horizont.“ Bei Lemmens schlug die Behandlung sofort an, gravierende Nebenwirkungen blieben aus, genauso wie weitere Lähmungen.
MS ist keine „Rollstuhl-Krankheit“
„Irgendwann habe ich dann angefangen zu joggen, um noch gesünder zu leben“, sagt er. Am Anfang schaffte er gerade einmal vier Kilometer, dann machte sein Körper nicht mehr mit. „Ich habe meine Beine hinter mir her geschleift und mich auch öfter mal lang gemacht. Aber das ist über die Zeit besser geworden.“ Wenn der Essener heute an der Ruhr entlangläuft, kann er abschalten und all seine Probleme vergessen. Der 14 Kilometer lange Rundweg um den Baldeneysee? Für ihn „überhaupt kein Problem“. An guten Tagen jedenfalls.
Denn obwohl die Antikörpertherapie angeschlagen hat, Lemmens Krankheitsverlauf für seine Neurologen „ein erfreulicher“ ist, endgültig geheilt ist er nicht. „Man kann die Krankheit bisher noch nicht heilen, nur das Immunsystem so kontrollieren, dass sie nicht weiter voranschreitet“, so Kleinschnitz.
Trotzdem sei MS längst keine „Rollstuhl-Krankheit“ mehr. Auch die Lebenserwartung der Erkrankten sei heute fast so hoch wie die von gesunden Menschen. Holger Lemmens will anderen Betroffenen daher Mut machen und ihnen zeigen, „dass das Leben weitergeht“. Kilometer für Kilometer.
Weitere Texte aus dem Ressort Wochenende finden Sie hier:
- Psychologie: Warum sich Mädchen komplett überfordert fühlen
- Migration: Wie ein pensionierter Polizist im Problemviertel aufräumt
- Essener Roma-Familie über Klischee: „Wir sind keine Bettler“
- Familie: Hilfe, mein Kind beißt, schlägt, tritt andere!
- Generation Pause: „Man genießt, nicht den Druck zu haben“