Essen. Das Geschlecht macht einen Unterschied: auch in der Medizin. Es nicht zu berücksichtigen, kann Leben kosten, sagt Prof. Christiane Tiefenbacher.

Frauen sind keine „kleinen Männer – Mediziner haben sie dennoch lange als solche betrachtet. Dabei äußern sich Krankheitssymptome bei Patientinnen oft ganz anders als bei Patienten, sind die Risikofaktoren für bestimmte Erkrankungen andere, wirken Medikamente unterschiedlich. Erst seit etwa 40 Jahren berücksichtigen Ärzte, Forschung und Pharmakonzerne zunehmend auch biologische und soziokulturelle Einflüsse auf Therapie, Diagnose und Prävention: Sex und Gender nennen Experten das, „Gendermedizin“ heißt der neue Ansatz. Prof. Christiane Tiefenbacher ist Fachfrau fürs Thema, auf dem „Gesundheitsgipfel Gendermedizin“ der Hamburger Frauenzeitschrift „Bild der Frau“, einer Tochter der FUNKE Mediengruppe, am Donnerstag in Essen saß sie auf dem Podium. Ute Schwarzwald sprach mit der Kardiologin, die seit 2008 Chefärztin der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Pneumologie im Marienhospital Wesel ist. Sie war die erste Chefärztin überhaupt in dessen 150-jähriger Geschichte.

Prof. Tiefenbacher, wie sind Sie zum Thema „Gendermedizin“ gekommen?

Tiefenbacher (lacht): Wie die Jungfrau zum Kinde… Das Thema flog mir einfach zu. Die Kardiologie ist ein sehr Männer-lastiges Fach, es gibt nicht viele Chefärztinnen in diesem Bereich. Wann immer es um das Thema „Frauen und Herz“ ging, hat man deswegen mich angesprochen. Anfangs habe ich mich dagegen sogar gewehrt, gesagt, es gibt doch auch Unterschiede zwischen Ethnien… Nach und nach habe ich begriffen, es gibt viele gute Gründe, sich mit Gendermedizin zu befassen. Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen nicht zu berücksichtigen, geht ja sogar mit einer erhöhten Sterblichkeit von Frauen bei bestimmten Erkrankungen einher.

Frauen bekommen seltener als Männer einen Herzinfarkt, aber sie sterben häufiger daran

Prof. Christiane Tiefenbacher, ist seit 2008  Chefärztin der Klinik für Kardiologie am Marienhospital Wesel – die erste Chefärztin in der 150-jährigen Geschichte der Klinik.
Prof. Christiane Tiefenbacher, ist seit 2008 Chefärztin der Klinik für Kardiologie am Marienhospital Wesel – die erste Chefärztin in der 150-jährigen Geschichte der Klinik. © Marienhospital Wesel | Marienhospital Wesel

Geschlechtsunterschiede in der Kardiologie gehören zu den am besten untersuchten Bereichen der Gendermedizin, hier hatte diese in den USA Ende der 80er-/Anfang der 90er-Jahre ihre Anfänge. Warum schlagen Frauenherzen anders als die von Männern?

Die Gendermedizin beachtet zwei Komplexe: soziokulturelle und biologische Gründe. Männer haben oft gefährlichere Berufe als Frauen, sie rauchen und trinken mehr, fahren schneller Auto. Das wirkt sich aufs Herz aus. Aber auch die Genetik spielt bei kardiologischen Erkrankungen tatsächlich eine Rolle, wissen wir heute. Auf X- und Y-Chromosom sind geschlechtsspezifische Hormone und Proteine codiert. Das weibliche Hormon Östrogen etwa schützt vor Gefäßverkalkung und sorgt für eine stärkere Durchblutung. Frauen haben zwei, Männer nur ein X-Chromosom – was sie im Alter vielleicht anfälliger für bestimmte Krankheiten macht.

Frauen erleiden tatsächlich seltener und etwa zehn Jahre später als Männer einen Herzinfarkt – aber Sie sterben häufiger daran, etwa 200.000 jährlich sind es. Ihre Symptome sind untypischer als die von Männern…

Diese Erkenntnis ist nicht einmal neu, sie wurde nur lange bezweifelt. Gerade erst bestätigt sie aber eine große Meta-Analyse aus den USA. Typischstes Symptom für einen Herzinfarkt beim Mann ist der starke Angina-pectoris-Schmerz, ein Druckgefühl in der Brust. Bei einer Frau können es Schmerzen im Rücken und Oberbauch sein, auch Übelkeit kommt bei weiblichen Infarktpatienten häufiger vor.

Frauen werden später reanimiert, Männer bekommen weniger Psychopharmaka

Frauen kommen zudem rund 30 Minuten später in die Klinik, zeigen Studien. Weil sie die Warnsignale ihres Körpers selbst nicht ernst nehmen?

Ja, Frauen verdrängen ihre Beschwerden oft, sie denken nicht an einen Herzinfarkt, meinen, sich zunächst um Kinder oder Mann kümmern zu müssen. Aber es gibt auch Studien, die zeigen, dass Ärzte Patientinnen nicht als besonders gefährdete Personengruppe einschätzen, vor allem jüngere männliche Ärzte erkennen Herzinfarkte bei Frauen später als die bei Männern. Ärztinnen und ältere, erfahrene Ärzte kommen den Studien zufolge schneller auf die richtige Diagnose.

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Gravierende Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt es auch bei anderen Erkrankungen, von Diabetes bis Depression…

Spektakulär, finde ich, ist, dass sogar die Karenzzeit für den Beginn einer Reanimation etwa nach einem Herzstillstand unterschiedlich ist. Bei Frauen dauert es länger, bis mit der Wiederbelebung begonnen wird. Männer haben vielleicht Angst, etwas kaputt zu machen oder die Frau zu „belästigen“… am Ende stehen die Frauen schlechter da. Frauen werden aber auch sehr viel häufiger als Männern Psychopharmaka wie Antidepressiva verschrieben – ohne, dass man weiß, ob sie wirklich häufiger psychische Probleme haben. Und dieses Problem kann man nur lösen, indem man sich dem Thema widmet. Von ganz vielen Dingen weiß man aber noch nicht einmal um die geschlechtsspezifischen Unterschiede, uns fehlen die Daten. Aber ich bin sicher, in zehn Jahren wissen wir mehr darüber.

Der klassische Proband ist ein 75 Kilo schwerer Mann

Selbst Corona verläuft bei Männern meist schwerer als bei Frauen, sie müssen häufiger beatmet werden, kommen öfter auf die Intensivstation. Dafür entwickeln mehr Frauen Long Covid. Hat das ausschließlich biologische Ursachen?

Darüber wissen wir noch zu wenig, in meinen Ohren klingt Long Covid manchmal wie das neue Burnout. Dass Frauen unter diesem Krankheitsbild häufiger leiden als Männer kann physische oder psychische Ursachen haben, denke ich. Frauen nehmen Symptome wie Erschöpfung, Schlafstörungen oder Konzentrationsschwächen vielleicht auch anders wahr als Männer.

Sie sagen, es fehlt an Daten für eine geschlechtssensible Medizin. Bis in die 90er-Jahre hinein waren Frauen ja in klinischen Arzneimittel-Studien auch unterrepräsentiert. Der klassische Proband war ein 75 Kilo schwerer, weißer Mann. Selbst in den Laboren wurden meist männliche Mäuse und Ratten verwendet oder männliches Zellgewebe. Warum war das so?

Die Forschungschefs waren Männer, das Thema wurde gar nicht diskutiert. Und man ging den Weg des geringsten Widerstands. Denn wir Frauen müssen uns dies tatsächlich auch selbst vorwerfen. Es ist noch heute sehr viel schwerer, Frauen für Studien zu gewinnen als Männer, sie sorgen sich viel mehr um mögliche Risiken, haben weniger oft Zeit und Lust teilzunehmen. Und das betrifft nicht nur junge Frauen im gebärfähigen Alter, die vielleicht schwanger werden wollen. In der Kardiologie suchen wir häufig verzweifelt auch nach älteren Studien-Teilnehmerinnen. Dabei werden Studien bei dem geringsten Verdacht, dass sie Probanden oder Probandinnen schaden könnten, sofort abgebrochen.

Die Diskussion um eine geschlechts-sensible Medizin hat Studienkonzepte verändert

Wie steht es denn aktuell um die geschlechtssensible Forschung? Sind Studien inzwischen gleichermaßen mit Probanden wie Probandinnen besetzt -- und werden sie nach Geschlechtern getrennt ausgewertet?

Man sieht, dass die Diskussion Früchte trägt. Während früher nur 25 Prozent aller Studienteilnehmer weiblich waren, sind es bei neueren Studien deutlich mehr. Die Planer der Studien achten inzwischen sehr darauf, auch wenn das Verhältnis noch nicht immer 50:50 ist, was es optimalerweise wäre.

Stichwort Arzneimittel: Seit 2004 müssen Pharmakonzerne bei der Entwicklung neuer Medikamente eventuelle Unterschiede zwischen Männern und Frauen sogar berücksichtigen. Aber was ist mit Medikamenten, die lange schon auf dem Markt sind?

Die pharmakologischen Unterschiede, was Wirkung und Verstoffwechselung angeht, sind bekannt. Nur fehlt es auch dazu leider an Daten. Vielleicht müssten bestimmte bewährte Medikamente bei Frauen sinnvollerweise anders dosiert werden als bei Männern, aber belegen lässt sich das nicht. Wir wissen es halt nicht sicher, es wäre Spekulation. Bei manchen Medikamenten hängt aber die Dosierung sowieso von Zielgrößen, beispielsweise der Herzfrequenz oder dem Blutdruck, ab.

Von Gendermedizin profitieren alle, auch Männer

Dreimal so viele Männer wie Frauen sterben durch Suizide – psychische Erkrankungen werden bei ihnen später (oder gar nicht) diagnostiziert. Auch dies ist eine Erkenntnis der Gendermedizin. Sie kommt also nicht nur den Frauen zugute?

Ziel der Gendermedizin ist es nicht, Frauen besser zu behandeln als Männer, sondern: sie genauso gut zu behandeln, alle Menschen möglichst gut zu behandeln – und von einer solchen individualisierten Medizin profitieren natürlich auch Männer. Von denen tatsächlich aber noch immer zu hören ist: Was kümmert Ihr Euch nun so gezielt um die Frauen, die leben im Schnitt doch eh fünf Jahre länger als wir? Aber das ist doch kein Argument…

Ist das Thema inzwischen in den Lehrplänen des Medizinstudiums verankert? Die neue Approbationsordnung nimmt es auf, aber sie tritt erst 2025 in Kraft.

Studenten kennen die Problematik mittlerweile, sie wissen, dass es Unterschiede gibt.

>>> Info: Der FUNKE-Gesundheitsgipfel in Essen

„Der Mann darf nicht das Maß sein. Wir müssen mehr, viel mehr über Frauengesundheit reden, Tabus brechen, aufklären“, glaubt Sandra Immoor, Chefredakteurin von „Bild der Frau“. Die Zeitschrift der FUNKE-Mediengruppe lud darum am Donnerstag zum ersten „Frauen-Gesundheitsgipfel“ in die Essener FUNKE-Zentrale ein.

Vor rund 80 Gästen – vor allem Vertreter von Kliniken, Krankenkassen, Medizin- oder Pharmaunternehmen, aber auch von Selbsthilfe-Organisationen wie „yeswecan!cer“, mit der die WAZ erst im Herbst eine große Patientenveranstaltung zur „Präzisionsonkologie“ an der Essener Uniklinik veranstaltet hatte – ging es zunächst um drei Erkrankungen, die vornehmlich Frauen betreffen: Brustkrebs, Endometriose und Myome. In Kurzvorträgen informierten Nadia Harbeck (Uni München), Sylvia Mechsner (Charité Berlin) sowie Cordula Schippert (Medizinische Hochschule Hannover) – alle drei Professorinnen sind ausgewiesene Expertinnen im jeweiligen Fachgebiet – über den aktuellen Stand der Forschung, Risikofaktoren und Therapiemöglichkeiten.

Barbara Steffens in Sorge um Versorgung der Babyboomer

In der anschließenden Gesprächsrunde diskutierten Dr. Franziska Rubin (Ärztin und Fernsehmoderatorin),

Podiumsdiskussion zum Thema Gendermedizin am Donnerstag (9.2.) in der Essener FUNKE-Zentrale: Franziska Rubin moderierte die Gesprächsrunde mit Christiane Tiefenbacher, Barbara Steffens und Werner Bartens (v.l.).
Podiumsdiskussion zum Thema Gendermedizin am Donnerstag (9.2.) in der Essener FUNKE-Zentrale: Franziska Rubin moderierte die Gesprächsrunde mit Christiane Tiefenbacher, Barbara Steffens und Werner Bartens (v.l.). © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Prof. Christiane Tiefenbacher (Kardiologin), Barbara Steffens (früher NRW-Gesundheitsministeriun, heute NRW-Chef der Techniker Krankenkasse) und Dr. Werner Bartens (Arzt und Journalist) das Thema „Gendermedizin“. Kontrovers. Während Tiefenbacher glaubt, dass man sich inzwischen „auf gutem Weg“ befinde, hält Bartens die geschlechts-spezifische Medizin noch für ein „Nischenfach“. Studien etwa würden im besten Fall paritätisch angelegt, aber nicht nach Geschlecht ausgewertet. Weitere 20, 30 Jahre werde es dauern, erklärte er, bis das Thema tatsächlich angekommen sei: im Bewusstsein, Ausbildung, Studien und Kliniken. „Dann werden wir Babyboomer nicht richtig versorgt werden“, fürchtet Steffens. Sie forderte, das Thema in den medizinischen Leitlinien zu verankern („andere Länder sind da viel weiter“), und dass Krankenkassen mehr Daten zum Thema auswerten dürfen. Sorge bereitet ihr, dass neue Künstliche Intelligenz in der Medizin möglicherweise mit Daten aus alten, nicht differenzierten Studien, gefüttert werden. „Doch unsere die Gesellschaft kann sich kein Gesundheitssystem leisten, das die Hälfte der Menschen defizitär versorgt. Das wird zu teuer.“