Essen. Die Randale in Essen-Huttrop mit rund 200 Jugendlichen beruhten wohl auf einer Absprache zu einer „Straßenschlacht“, berichten Anwohner.

„Meinen Schwager hat die Rakete direkt hier getroffen.“ Der 46-Jährige zeigt auf seine Stirn. Wir stehen vor dem Wasserturm in Essen-Huttrop, wo sich in der Silvesternacht rund 200 Jugendliche ein Gefecht mit Feuerwerkskörpern geliefert haben. „Trommelfell geplatzt, Not-OP“, sagt der Mann. „Mein Schwager hätte fast sein Augenlicht verloren. Meiner kleinen Nichte sind alle Haare vorne verbrannt, neun Jahre ist sie alt. Ihre 14-jährige Schwester hat eine Platzwunde von der Rakete abbekommen. Sie waren gerade aus dem Haus gekommen, hatten selbst nicht mal einen Knaller angezündet.“

Patronenhülsen auf der Straße

Es muss wild zugegangen sein, man sieht es noch, wenn man genau hinschaut: geschwärzte Stellen an zwei Häuserfassaden. Und über die ganze Steeler Straße verteilt die Patronenhülsen von Schreckschusspistolen. In zahlreichen Videos aus der Nacht, die zum Beispiel auf Tiktok kursieren, unterlegt von Musik, fliegen Raketen und Böller kreuz und quer und unter Autos und explodieren zwischen Polizisten. Zwei Beamte werden in dieser Nacht leicht verletzt. In Kray brennen Paletten auf der Straße, darin kommt es zu Explosionen.

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Unser Gesprächspartner ist im sozialen Bereich tätig, kommt selbst aus einer Großfamilie, kennt einige der Jugendlichen und ihre Welt. „Die waren alle zwischen 13 und 16 Jahre alt und kamen aus ganz Essen. Du bist doch aus Katernberg, sag ich zu einem – Ja, wir sind hier verabredet, sagt der. Aus dem Bergmannsfeld waren zwanzig Leute da, aus Kray, aus Schonnebeck … die haben sich auf Tiktok abgesprochen. In Altenessen ging das nicht mehr, weil dort letztes Jahr Randale waren und die Polizei den Fokus drauf hat. Die Kinder sind ja nicht blöd. Und hier am Wasserturm ist es zentral.“

„Sonst ist es immer ruhig hier“, sagt ein Frisör, der vorbeikommt. „Mit Jugendgruppen haben wir sonst keine Probleme“, sagt auch Deniz Kartal vom gleichnamigen Imbiss. „Menschen müssen feiern, aber dieses Benehmen ist beschämend. Die Polizisten sind da zu unserer Sicherheit. Wie kann man die beschießen? Und die Kosten für solche Einsätze müssen wir alle bezahlen. Und das Schlimmste: Wir Ausländer werden jetzt alle in einen Topf geworfen.“

Und warum machen die das?

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„Es gab keinen, der nicht sein Handy gezückt hatte, sagt unser erster Gesprächspartner. „Die wollen cool sein und dazugehören. Aber wozu, das habe ich nicht verstanden.“ Er glaubt, dass die Jugendlichen TikTok-Influencern wie „Barello“, „Engelsgesicht“ und „arroganter Pate“ nacheifern wollen, die ihre Fehden und Prügeleien dort klickträchtig inszenieren. Oder ist es Frust? „Frust wem gegenüber? Die haben Spaß daran. Die wollen Feedback und ,Fame’ haben. Aber dafür muss man doch nicht mit Raketen auf die Polizei schießen.“

„Die sind einfach matschig in der Birne“, sagt ein weiterer Mann, der gerade die Straße gefegt hat und die Böllerreste in einem Einkaufswagen abtransportiert. Er gesellt sich dazu, wie unser erster Gesprächspartner gehört auch er einer Großfamilie an. Beide sagen, sie haben sich in der Silvesternacht vor die Jugendlichen gestellt und seien laut geworden: „Alle jetzt das Handy aus.“ Schließlich seien diese auch abgezogen, hätten sich zumindest verlagert, „aber mit Todesblicken. Wir sind jetzt die Buhmänner hier, weil wir für Ordnung gesorgt haben.“

„Wir sind angeblich ein Familienclan“, sagt der Mann, der die Straße gefegt hat. „Aber wir sind nicht alle kriminell. Wir haben hier unsere Läden. Und die kommen und machen innerhalb einer Stunde zwanzig Jahre Arbeit kaputt.“ Er hätte sich ein stärkeres Eingreifen der Polizei gewünscht.

Hört auf, uns als Clan-Mitglieder zu bekämpfen

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„Aber“, fragt ihn unser erster Gesprächspartner, „was soll der Einsatzleiter denn machen, wenn da hundert Leute stehen und sich beschießen? Wir brauchen mehr Förderprogramme in Essen und vor allem müssen so Leute wie wir einbezogen werden. Hört auf, uns als Clan-Mitglieder zu bekämpfen. Wir werden alle in einen Topf geworfen. Aber wir sind diejenigen, die zu den Familien hingehen können, um einen Tee zu trinken und dafür zu sorgen, dass das hier nächstes Jahr nicht mehr stattfinden wird.“

Etwas weiter die Steeler Straße hoch treffen wir den 16-jährigen Jason, der sich mit seinen „Kollegen“ in der Silvesternacht „natürlich beschossen hat“, nicht in Huttrop, aber in der Essener Innenstadt. „Ich habe eine Rakete hier abgekriegt“, er zeigt auf seinen Knöchel. „Und einen Raketenstock im Rücken. War sehr lustig auch, wir waren auch sehr voll.“ Auf Polizisten würde er nicht zielen, sagt er. Dann fällt ihm ein: „Aber eine Rakete in die Schienen legen, das schon. Ich würde sie aber erst anzünden, wenn die vorbeigefahren sind. Ich bin einer der wartet, ganz chillig.“ Er wirkt ein bisschen stolz.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Berichts hatten wir Szenen aus dem Youtube-Video „Silvester im Krieg Partymeile“ beschrieben. Dieses Video stammt aus der Silvesternacht 20/21. In den sozialen Medien kursieren zahlreiche aktuelle Videos, die ähnliche Szenen von diesem Silvester 22/23 zeigen. Wir bedauern den Fehler und haben den Artikel entsprechend geändert.