Wuppertal. Nach Sex und Geborgenheit sehnen sich alle Menschen – ob mit oder ohne Behinderung. Das zeigt eine neue Filmreihe des Medienprojekts Wuppertal.
„Wir sind alle Menschen mit Gefühlen“, erklärt Hannah L.. In „Alles Liebe 2“, einer frisch in Wuppertal vorgestellten Dokumentarfilmreihe, lässt die 34-Jährige ihr Smartphone sprechen. Mit einer App für Unterstützte Kommunikation hat sie ihre Gedanken festgehalten.
Nun verliest Siri die längeren Passagen und auch diesen Satz: „Sexualität ist ein natürliches Verlangen.“ Mit der Nase scrollt die Verfasserin durch ihren Text auf dem Bildschirm. Hannah lebt in einem barrierefreien Apartment in Witten. Wegen einer körperlichen Behinderung spricht sie sehr langsam. Und sie ist auf einen Rollstuhl angewiesen.
Sexualbegleiter gibt Wittenerin mit Behinderung Selbstbewusstsein
Hannah ist Künstlerin, malt mit ihren Füßen und dem Mund abstrakte Bilder und hatte kürzlich eine eigene Ausstellung. „Im Grunde sind wir Kinder, die Hilfe brauchen. So sieht es die Gesellschaft“, sagt die elektronische Stimme im Film. Dazu ist Hannah zuhause an ihrem Schreibtisch zu sehen. Die Kamera zeigt sie halb von hinten, da sie nicht erkannt werden wollte.
Vor einiger Zeit suchte die behinderte Frau nach Callboys zur Erfüllung sexueller Wünsche. Erfolglos, „da die Erfahrung mit behinderten Menschen fehlte“, sagt sie im Interview. Dann entdeckte sie im Internet Thomas Aeffner, einen Sexualbegleiter.
Wittenerin kann dank Sexualbegleitung erstmals schönen Sex erleben
Der 69-Jährige ließ sie erstmals schönen Sex erleben und intime Nähe. Diese Begegnungen haben der Wittenerin körperliches Selbstbewusstsein geschenkt. Dass sie ihn dafür bezahlte, stört sie nicht. Trotz ihren Einschränkungen wollte Hannah, wie jede andere, als Frau geschätzt werden. Bis dahin war es ein langer Weg.
Wichtigste Botschaft der acht Videos aus „Alles Liebe 2“: Nach Geborgenheit, Zärtlichkeit und sexueller Lust sehnen sich alle Menschen. Behindert oder nicht. Davon erzählen die Protagonistinnen und Protagonisten in insgesamt einer Stunde und 22 Minuten. Entstanden ist das Projekt in der inklusiven Filmredaktion „Augenblicke“, die zum „Medienprojekt Wuppertal“ gehört.
„Medienprojekt Wuppertal“ zeigt Menschen aus ganz NRW
Hautnah aufgenommen an Drehorten in Nordrhein-Westfalen und mit wechselnden Personen. Insgesamt arbeiteten circa 20 Frauen und Männer an dem eindrucksvollen Werk, das aus der Sichtweise der behinderten Menschen entstand. „Zur Abnahme der Interviews und Filmszenen haben wir uns in Gruppen getroffen“, erläutert Redaktionsleiter Sebastian Bergfeld.
Verträumte Musik im Hintergrund: Ein Junge malt ein Herz auf eine Tafel. „Beziehungen“ lautet der Titel dieses Videos. Rund vier Minuten geben Jugendliche mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen Einblicke in ihre Gefühle: das erste Treffen mit der Freundin im Café, schüchterne Gespräche auf einer gemeinsamen Reise.
„Wir hatten kein Skript. Wir haben einfach gedreht“, sagt Bergfeld über die Arbeit. Der 43-jährige Solinger ist Diplom-Sozialpädagoge und Quereinsteiger beim Film. Zusammen mit Yvonne Warsitz realisierte er die außergewöhnliche Reihe. Die Ideen lieferten die Beteiligten selbst.
Liebe, Nähe, Sexualität und Partnerschaft sollten das Filmthema sein. Wie 2021, als „Alles Liebe 1“ erschien. Beide Filmreihen wurden in Schulen, Wuppertaler Werkstätten und Wohngemeinschaften aufgenommen.
„Lust ist kein Privileg für Frauen und Männer ohne Behinderungen. Für jeden Menschen soll ein selbstbestimmtes und erfülltes Sexualleben möglich sein“, erklärt Floris Bottinga von der Beratungsstelle Pro Familia in Solingen. Dort kümmert sich der gebürtige Niederländer mit viel Erfahrung und Engagement um das Themenfeld Sexualität und geistige Behinderung.
Die inklusive Redaktion aus Wuppertal hat ihn kürzlich interviewt. „Was den Beteiligten selbst klar ist, wird gesellschaftlich oft nicht anerkannt“, so der Experte. „Deshalb ist diese Doku-Reihe so wichtig“, unterstreicht Bergfeld.
Menschen mit Behinderung fühlen sich sexuell ausgegrenzt
Gefördert wurde sie unter anderem vom Landschaftsverband Rheinland. 13 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Behinderung. Das entspricht laut der „Mikrozensus Erhebung 2019“ etwa 16 Prozent der Bevölkerung. Rund 70 Prozent davon sind körperbehindert.
Scham und Unsicherheiten erleben nicht nur die Betroffenen. In Einrichtungen und Organisationen legte man lange das Augenmerk auf eher existenzieller Hilfe sowie auf Berufsförderung. Im Fokus stand der Pflegebedarf. Persönliche Wünsche und Bedürfnisse gingen unter, erst recht das Tabu-Thema Sex.
Immer noch fühlen sich Menschen mit Behinderung sexuell ausgegrenzt. Einer der spannendsten Bereiche der jüngsten Produktion, so Bergfeld, sei die Sexualbegleitung: Speziell geschulte Frauen und Männer wie Thomas Aeffner bieten sexuelle Dienstleistungen für Menschen, die aufgrund von Beeinträchtigungen besonders unterstützt werden müssen. Solche Dates bestehen manchmal nur aus Berührungen. Hannah genießt es, gehalten und gestreichelt zu werden.
Sexualbegleiterin hilft Menschen mit Behinderung
Wie schnell ein gesunder Mensch zum Pflegefall werden kann, zeigt Norbert. 2016 veränderte ein Autounfall sein Leben drastisch. Seitdem Hals abwärts gelähmt, kann er nur noch liegen und die Hände nicht mehr bewegen und wohnt in einem Pflegeheim.
Sexualbegleiterin Pia Hoffmann hilft ihm, Sexualität trotz der erworbenen Behinderung und „des neuen körperlichen Empfindens“, wie Bergfeld erklärt, zu erleben. Die Kamera war auch hier dabei. Beobachtend, nie voyeuristisch.
Wuppertalerin pflegt ihren erkrankten Mann
Berührend sind die Alltagsszenen von Martina und Michael H., das Wuppertaler Ehepaar lebt mit einer besonderen Herausforderung: Michael hat Chorea Huntington, eine unheilbare Gehirnerkrankung. Die Symptome mit ungewollten Bewegungen, Sprach- und Schluckstörungen schreiten fort.
Martina muss zusehen, wie ihr einst gesunder Mann immer hilfsbedürftiger wird. Eine Szene zeigt Martina beim Anziehen von Michael. Das zu sehen, habe die Redaktion sehr bewegt: „Nach dem Interview sind vor und hinter der Kamera die Tränen geflossen“, erinnert sich Bergfeld.
„Stärke ist keine Frage von Muskeln“
„Stärke ist keine Frage von Muskeln. Sie kommt von innen“, ist Matthias überzeugt, den das Film-Team unterwegs begleitet. Der 30-Jährige wirkt wie der beste Beweis. Sein Muskelschwund (Spinale Muskelatrophie) zwingt ihn in den Rollstuhl. Doch das hat ihn nicht vom Besuch der Fachhochschule Hagen abgehalten, wo er Wirtschaftsinformatik studierte.
Im Video redet Matthias offen über seine Wünsche und Ängste. „Alles Liebe 2“ bricht Tabus gleich doppelt: Behinderung an sich löst Schwellenängste aus, die Kombination mit Sexualität macht das Thema nicht einfacher.
„Wir möchten Menschen mit Behinderung sichtbarer machen“
Die inklusive Redaktion bemüht sich um Aufklärung. Sebastian Bergfeld: „Ich lerne viel bei den Drehs. Über die Personen, Barrieren und Möglichkeiten. Ihre Perspektive wollen wir authentisch vermitteln. Wir möchten dazu beitragen, Menschen mit Behinderung sichtbarer zu machen. Sie sollten in allen Lebensbereichen mitgedacht werden.“
Dominik C. ist bisexuell. Mit dem Interview des 22-Jährige aus Wetter an der Ruhr schließt die Filmreihe. Dominic wurde in Mettmann geboren. Seit der Gehirntumor-Operation 2002 ist er auf den Rollstuhl oder einen Rollator angewiesen.
Doch gern hätte er einen „Läufer“ zum Freund, trotz aller Schwierigkeiten, die so eine Beziehung mit sich bringen könnte. Über seine Behinderung sagt er: „Man kann es nicht ändern. Man muss es einfach akzeptieren. So wie man ist, ist man perfekt.“ Ein schöner Gedanke, mit dem der Film endet.
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