Erst Corona, jetzt Krieg. Die Krise gerät zum Dauerzustand - und beleuchtet gnadenlos unsere Baustellen. Brauchen wir einen neuen Supermann?
Ausgerechnet am Morgen, als der Krieg begann, zeigte unser Schnelltest die verfluchte zweite rote Linie. Zwei Jahre hatten wir uns tapfer gegen eine Infektion gestemmt. Und jetzt das. Doch an diesem Morgen hatte Corona viel von seinem Schrecken verloren. Putins Angriffskrieg erschien weitaus bedrohlicher. Mit Maske, Impfung, AHA-Regeln war dem Virus ganz gut beizukommen. Ob halbherziges Öl-Embargo, Swift-Sperre und Ächtung gegen Panzer helfen?
Virus und Krieg haben zunächst nichts miteinander zu tun, nur so viel: Die Krisen folgen auf- und ineinander, verstetigen den Ausnahmezustand, machen Probleme sichtbar, schichten immer neue Ängste auf. Unsere Krisenkompetenz kommt nicht mit, weder persönlich noch politisch oder gesellschaftlich. Wer heute um die 20 Jahre alt ist, hat sein Leben mit 9/11 begonnen. Afghanistan, Finanz- und Eurokrise, Fukushima, Syrien, Flüchtlinge, Trump, Pandemie, jetzt Putin, dramatisiert vom Daueralarm durch Klimawandel und dem schleichenden Verdacht, dass Erhards Versprechen vom Wohlstand für alle ein Märchen längst vergangener Zeiten ist.
Haarrisse ziehen sich durchs Land
Die Gesellschaft mag nicht gespalten sein, aber es ziehen sich Haarrisse durchs Land. Vertrauen bröckelt in den Nachkriegsdeal zwischen Staat und Bürgern: Wir halten den Laden am Laufen, ihr seid artig, fleißig und genießt den Wohlstand. Leider läuft der Laden nicht mehr, sondern frisst sich selbst auf. Der artige Bürger ist zunehmend verunsichert.
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Als wir unsere Infektionen ordnungsgemäß dem Gesundheitsamt melden wollten, riet unsere Hausärztin dringend ab. Das Amt sei völlig überlastet, es dauere Wochen, bis ein unfreundlicher Brief uns Quarantäne auferlege, obgleich wir längst freigetestet seien. Gesundheitssystem warnt vor Gesundheitssystem. Aber die Regierenden tun so, als liefe der Laden doch eigentlich ganz ordentlich.
Die Dauerkrise befeuert eine endlose Tragikomödie. Ein vermeintlich starker Staat will und soll alles regeln, von Sprit- bis Heizkosten, obgleich seine Schwächen immer sichtbarer werden. Doch unverdrossen werden mit jeder Krise die alten Rituale aufgeführt: Erstens große Betroffenheit über Probleme, die wir oft mitverschuldet haben. Zweitens die Bazooka mit Milliarden, die wir nicht haben. Drittens: Pläne und Projekte, die nie umgesetzt werden. So werden unablässig Versäumnisse offenbar, ob Bildung oder Außenpolitik, Gesundheit oder Sicherheit, Kommunikation oder Verteidigung. Statt die pädagogische Ausbildung dem 21. Jahrhundert anzupassen, werden echte Milliarden für symbolisches Handeln verballert. Von den hektisch angeschafften Tablets für Schulkinder altert die Hälfte originalverpackt in irgendeinem Lager. Bald liegen wahrscheinlich stapelweise Jodtabletten daneben und Bundeswehrsocken. Geld ist nicht das Problem, sondern dessen kluger Gebrauch. Statt Effizienz und Resilienz regiert in Deutschland der Verschleiß. Egal. Die nächste Krise lenkt ja wieder ab.
Wir sind Weltmeister im Problemebeschreiben
Krise ist keine Ausnahme, sondern Dauerzustand. Wäre es nicht an der Zeit, das Land dauerhaft zu ertüchtigen anstatt in sisyphoshafter Gleichmut den immer gleichen Dreiklang aus Panik, Hektik und Erschöpfung zu spielen? Die Pandemie hat viele unserer Problemzonen aufgezeigt, Putin den Rest. Dass bis heute keine Regierungskommission die Schwachstellen, Lehren und Bremsen seit März 2020 sammelt, analysiert und Verbesserungsvorschläge macht, ist Kennzeichen unserer erregten Stillstandsgesellschaft – Weltmeister im Problemebeschreiben, Abstiegskandidat beim Lösen. Alle meckern, niemand renoviert ein dysfunktionales Bund-Länder-Verhältnis, das den an sich schlauen Föderalismus diskreditiert.
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Der stabilste deutsche Konsens lautet: Früher war alles besser, normal eben. Dahin wollen wir zurück. Nostalgie ist die Utopie der Bequemen. Denn dieses „Normal“ ist die Ausnahme, die Ruhe und Sicherheit, Urlaub und Rente, das Leben als Rundumsorglospaket. Ein solches Leben ist nicht normal, schon gar nicht ewig, sondern historischer Glücksfall. Normal bedeutet auf diesem Planeten meist Mangel, Gewalt, Krieg, Flucht, Diktatur. Was nicht normal ist: Frieden, Demokratie, Wohlstand, Gerechtigkeit, Funktionieren. Die Maßstäbe sind verrutscht, wenn das Maskentragen oder das Absenken der Raumtemperatur um zwei Grad zur Bedrohung von Grundrechten hochgelogen wird.
Der Abschied von Lebenslügen
Zugleich bietet Corona die einzigartige Chance, eine wenn auch unwirtliche Wirklichkeit einer beschleunigten, übervollen und brutalen Welt anzuerkennen, von anfälligen Lieferketten bis zur Tücke Facebooks, von easy Energiewende bis zu dysfunktionaler Bundeswehr, von Gier bis Erlöserkult, von Wissenschaftshass bis zu bösartigen Lügen. Donald Trump feiert seinen Kumpel Putin für einen Angriffskrieg um Lebensraum im Westen. Und ein bis ins Absurde gelassenes Deutschland bekommt seit zwei Jahren nicht mal Putins Giftschleudern wie den Messengerdienst Telegram oder das Hetzefernsehen rt.tv in den Griff. Psychologen wissen: Jede Krise bietet die Chance, sich von Lebenslügen zu verabschieden, ob Schröder, Schalke, Schwesig und manchmal auch Schumacher. Nein, opportunistisches Wirtschaften mit weltmachtfiebrigen Diktatoren ist keine stabile Wohlstandsbasis. Nein, ein funktionierendes Miteinander lässt sich nicht von der Wellnessliege herbeimeckern. Nein, die Demokratie ist nicht per Emoji bei Instagram zu verteidigen. Ja, die Feinde der Freiheit sind tückischer als wir dachten.
Corona hat uns einen Schnellkurs in Sachen Realität erteilt, über unseren Konsum, unsere Werte, unsere Ängste, aber auch unsere Möglichkeiten. Es liegt alles offen da. Vielleicht muss man jung sein, um die Realität klar zu sehen.
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Allein mit Angst und Hoffnungslosigkeit
Als neulich im Autoradio zum x-ten Mal die Meldung kam, dass die Pandemie verheerend auf die Psyche junger Menschen gewirkt habe, erklärte der Elftklässler vom Beifahrersitz ungerührt, was seiner Meinung nach geschehen war: verworrene Lage an den Schulen, wenig persönliche Kontakte, Einsamkeit, Flucht in die ungefilterte Brutalität des Internets, gestresste Eltern, die ebenfalls in ihr Smartphone starren. Noch mehr Alleinsein mit Angst und Hoffnungslosigkeit.
Es seien vor allem die Mittelstandsfamilien, die unter der Dauerkrise litten, sagt Lissy Eichert, Pastoralreferentin von St. Christophorus. Eicherts Gemeinde liegt in Neukölln, wo Deutschlands Probleme auch ohne Pandemie wie unter einem Brennglas sichtbar waren. Gerade die sozial Schwachen, die Abgehängten und Beladenen aber, so Lissy Eichert, seien vergleichsweise gut durch die Lockdowns gekommen: „Wenn das ganze Leben im Krisenmodus verläuft, macht eine Pandemie keinen großen Unterschied.“
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Und wo bleiben die guten Nachrichten? Hier sind sie. Die Verschuldung deutscher Haushalte ist zurückgegangen. Die Wirtschaft lebt. Von Ferne betrachtet hat Deutschland dem Virus ganz gut standgehalten. Fast 80 Prozent sind geimpft, über 80 Prozent haben bei einer mitten in der Pandemie abgehaltenen, durchaus epochalen Wahl demokratisch gestimmt, mehr als 80 Prozent sind trotz enormer Lasten nicht abgeglitten in die süße Jauche des Hasses.
Die Mechanismen der Aufmerksamkeitsindustrie
Der italienische Ingenieur Vilfredo Pareto formulierte vor hundert Jahren das 80-20-Prinzip, wonach 80 Prozent eines Resultats mit 20 Prozent Aufwand zu erledigen seien, die verbliebenen 20 Prozent aber 80 Prozent des Aufwands ausmachten. Ein Fünftel der Deutschen hätte mehr politisch-psychologische Aufmerksamkeit gebraucht, aber deutlich weniger mediale.
Corona offenbarte schonungslos die toxischen Mechanismen der Aufmerksamkeitsindustrie. Wir Medien lieben das Bizarre, Aggressive, Bekloppte, Kontroverse, das für Quote, Klicks und damit Werbegeld sorgt. Aus wirtschaftlichen Gründen wird zwielichtigen Figuren oder Randthemen eine Scheinrelevanz zuteil, siehe Maskentod, Chip-Impfstoff, Schwindelarzt, Vegankoch, Djokovic. Belohnt werden nicht die, die erklären, sondern absichtsvolles Missverstehen, krawalliger Unsinn und katastrophistische Endzeitsprache. Emotions first. So läuft jedes Rudel Verwirrter, das in einer sächsischen Kleinstadt „Diktatur“ brüllt und „Gulag“ meint, gleichwichtig neben Professor Drosten durch die Nachrichten. Oder, frei nach Pareto: 20 Prozent Durchgeknallte bekamen 80 Prozent der Aufmerksamkeit. Artikel 5 des Grundgesetzes aber schützt nicht das Ausbringen von Gift; vielmehr gilt das Toleranzparadox von Karl Popper, dass die Freiheit dort endet, wo sie von Intoleranten missbraucht wird, um sie zu zerstören.
Und wir zitieren den Wendler
Unschöner Kollateraleffekt: Der dauernde Alarmismus tötet die zivilisierte Debatte, Grundlage einer Demokratie. Spaltet sich die Gesellschaft in Impflinge und Querdenkende, verliert Kritik ihren konstruktiven Kern und mutiert zur Waffe im Meinungskampf, wie der Fußballer Joshua Kimmich erfahren musste. Im Rausch der Klicks gelang uns Medien zu selten, zwischen berechtigter Kritik, schlichten Bedenken und wirrem Gewüte zu trennen.
Wo aber sachliche Kritik diskreditiert ist, wird es der Politik zu einfach gemacht. Oft genügt, die Emotionen zu bewirtschaften anstatt langfristig klug zu regieren. Wenn eine Studie nach zwei Jahren Pandemie ergibt, dass Migranten zwar grundsätzlich impfbereit seien, die Impfquoten aber niedrig, dann könnte es daran liegen, dass eine Impfkampagne nichts taugt. Und wir Medien? Zitieren den Wendler. Dumm klickt gut.
Die Dokumente werden per Hand bearbeitet, der Abgleich mit einer vorhandenen Datenbank findet nicht statt. Es mangelt an technischem Gerät und Expertise der Mitarbeitenden. Was nach Corona-Management in deutschen Gesundheitsämtern klingt, geschah im Flüchtlingswinter 2015, als Behörden nicht prüfen konnten oder wollten, ob ein Migrant bereits in einem anderen EU-Land registriert ist. Fünf Jahre später arbeitet die Verwaltung unverändert mittelalterlich. Bis heute weiß das Robert-Koch-Institut nicht, wie viele Menschen geimpft, geboostert, genesen sind. Die Politik trifft teils drastische Entscheidungen auf Grundlage gefühlter Zahlen. Voodoo-Regieren.
Wie sollen unsere Kinder diesem Staat trauen?
Unsere Verwaltung, neben der Armee Preußens ganzer Stolz, arbeitet oft nicht für den Bürger, sondern fürs eigene Überleben. Mit Blick auf die nahe Rente stemmt sich eine überalterte Belegschaft in den Ämtern gegen jegliche Modernisierung.
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Die Kernaufgabe Digitalisierung, in jedem Koalitionsvertrag zu finden, erweist sich seit Jahrzehnten als dreiste Lüge. Wenn aber dieses Monstrum namens Verwaltung nicht Schritt hält, dann bremst das ganze Land. Bildung und Gesundheit, jetzt Verteidigung – überall stocken die Abläufe, weil Altes nicht mehr funktioniert, aber das Neue auch nicht. Und die Dämonen Rente und Pflege warten schon.
Zwischen großen Worten der Politik („Nehmen Sie es ernst!“) und den bizarren Alltagserfahrungen der Menschen, nicht für voll genommen zu werden, klafft ein Abgrund des Unernstes: Warum legt ein Staat, der Milliarden verdient mit den Killern Alkohol und Tabak, soviel Wert darauf, Covid-Infizierte um jeden Preis zu retten? Warum erlaubt das Kartellamt dem russischen Energiegiganten Rosneft noch Ende Februar, Anteile an einer deutschen Raffinerie zu kaufen? Was macht die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eigentlich den ganzen Tag? Wie sollen unsere Kinder, die am Smartphone erleben, wie schlau und effektiv digitale Systeme funktionieren, diesem Staat trauen, dessen Corona-App eine Risikobegegnung gar nicht oder erst Wochen später meldet? Wie Appelle an den Gründergeist ernst nehmen, wenn das Land der hidden champions in zwei Jahren keine Fabrikation von Schnelltests hinbekommt und wir stattdessen für jede roten Strich einen Euro nach Peking überweisen?
Es fehlt eine Zukunftserzählung
Es war unverschämtes Glück der Regierenden, dass die Einzelkämpfer von Biontech einen Impfstoff präsentierten, übrigens nicht staatlich gefördert, sondern gesponsert mit privatem Geld. Von wegen Bundesagentur für Sprunginnovationen. Während sich Unions-Politiker für Maskendeals feiern, dient Biontech gleichsam als letztes Beatmungsgerät für den ziemlich angeschlagenen Mythos vom Innovationsweltmeister Deutschland.
Was fehlt, ist eine Zukunftserzählung, hinter der sich 80 Prozent der Deutschen versammeln möchten: Wer sind wir, was können wir, wo wollen wir hin, was hält uns zusammen? Dafür müsste sich ein Staat, der sich mit der Kümmererrolle heillos übernimmt, zunächst einmal ehrlich machen.
Angesichts eines Zerstörungskriegs an der EU-Grenze hat sich Kanzler Scholz erstmals auf das Terrain der Ehrlichkeit gewagt. Den ersten Schritt dorthin aber machte der Heeresinspekteur mit seinem heroischen Bekenntnis, die Bundeswehr sei blank. Bei Bildung und Gesundheit sieht es auch nicht besser aus. Zur Ehrlichkeit gehört auch, das Modernisierungsparadox anzusprechen. Denn bis was Neues funktioniert, wird es erst mal schlechter, wie derzeit die Bahn beweist, das größte Transformationsprojekt des Landes. Wir werden noch einige Jahre mit Verspätungen leben müssen, damit der Laden eines Tages wieder ruckelfrei läuft. Keine Modernisierung ohne Baustellen.
Eine Chance für unpopuläre Entscheidungen
So zynisch es klingt, vielleicht ist es ein Glücksfall, dass alle Versäumnisse, die in der Pandemie zutage traten, von Putins Krieg noch einmal schmerzhaft bekräftigt wurden. Allen dürfte klar ein: Die Baustellen werden größer, je länger wir sie ignorieren. Geld allein wird das Land ebenso wenig retten wie Schnitzelverzicht das Klima.
Große Krisen, die das Volk nachhaltig verunsichern, öffnen für eine Demokratie die seltene Gelegenheit, Mehrheiten für wichtige, aber unpopuläre Projekte zu gewinnen. Statt betäubender Ich-kann-Krise-Rhetorik hat Olaf Scholz in diesen Wochen die historische Chance, ein Abenteuer namens Aufbruch zu beginnen, eine zivilgesellschaftliche Mobilmachung frei nach Willy Brandt unter dem Titel: Mehr Zukunft wagen.
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Die Regierungserklärung des Kanzlers könnte lauten: Wir können und wollen die Augen nicht länger verschließen vor den Mängeln, Widersprüchen und Fehlentwicklungen. Wir brauchen ein neues, gemeinsames und zukunftsfestes Verständnis von Menschenwürde und Lebensqualität, von Wachstum und Wohlstand. Um unsere Abwehrkräfte zu stärken, Verschleiß reduzieren und uns in neuer Gemeinsamkeit zu üben, werden wir unsere Komfortzone verlassen und radikale Kompromisse machen. Ich kümmere mich um ein sinnvolles Vorgehen und größtmögliche Gerechtigkeit. Wir können scheitern, wenn wir es versuchen. Aber wir werden scheitern, wenn wir es nicht versuchen.
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