Essen. Der neue Bundespräsident wird gewählt. 1969 war es spannender. Dafür sorgten 22 NPD-Stimmen, wankelmütige FDP-Delegierte und Kampfflugzeuge.
Es ist Pfingstmontag, doch die Stimmung rund um die Ostpreußenhalle am Berliner Funkturm hat wenig Festliches. Es herrscht Hochspannung – und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Am 5. März 1969 steht die Wahl des neuen Bundespräsidenten an, und das Rennen zwischen dem Sozialdemokraten Gustav Heinemann und dem konservativen CDU-Mann Gerhard Schröder gilt als offen. Die SPD will endlich einen der Ihren an die Spitze des Staates hieven, die Christdemokraten fürchten den drohenden Machtverlust.
Der Ostblock protestiert heftig dagegen, dass die Wahl im geteilten Berlin stattfindet. Die DDR hat an diesen Tagen eine Durchfahrt-Sperre nach West-Berlin verhängt. Immer wieder donnern sowjetische Kampfflugzeuge im Tiefflug über den Tagungsort. Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU), der die Sitzung leitet, weist die Provokationen scharf zurück: „Ob, wann und in welcher Weise wir hier in Berlin zusammentreten und unsere Rechte wahrnehmen, das entscheiden wir allein.“
Es ist eine Zwischenzeit: Der Kalte Krieg hallt noch vernehmbar nach, die Entspannungspolitik zwischen Ost und West hat noch nicht begonnen. In Bonn regiert die Große Koalition unter CDU-Kanzler Hans-Georg Kiesinger.
Wahl 1969: CDU will Heinemann unbedingt verhindern
Anders als im Februar 2022, als sich eine große Mehrheit der Parteien schon im Vorfeld für die erneute Wahl von Frank-Walter Steinmeier zum Bundespräsidenten ausgesprochen hat, ist das Duell zwischen Heinemann und Schröder ein politischer Thriller ersten Ranges. Mittendrin: Die rechtsradikale NPD, die zwar nicht im Bundestag sitzt, dafür aber in den Landtagen von Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein; somit dürfen die Neo-Nazis 22 Delegierte in die Bundesversammlung entsenden.
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Sie könnten an diesem Tag das Zünglein an der Waage sein, denn die Mehrheitsverhältnisse sind äußerst knapp: Es gibt 1036 Stimmberechtigte, von ihnen gehören 482 der Union an (oder sind von ihr nominiert), 449 der SPD und 83 der FDP, dazu die NPD-Leute. In den ersten beiden Wahlgängen liegt die erforderliche Mehrheit bei 519 Stimmen. Aber: Nur 1023 Mitglieder der Bundesversammlung sind an diesem Tag in Berlin präsent, einige haben sich krankgemeldet und können auch nicht eingeflogen werden. Darunter sind sechs Delegierte der SPD. Die Sache steht Spitz auf Knopf.
Mit allen Mitteln will die Union Heinemann verhindern, der 1950 aus Protest gegen die Wiederbewaffnung aus der CDU ausgetreten war und einige Jahre später zur SPD gefunden hatte. Die große Frage an diesem Tag ist: Wie wird sich die FDP verhalten? Seit die Liberalen 1966 aus der Koalition mit der Union im Bund ausgeschieden sind, hat die Partei einen Schwenk hin zur SPD gemacht. Eine sozial-liberale Koalition scheint nicht ausgeschlossen und die Wahl des SPD-Mannes Heinemann könnte die Generalprobe für einen Machtwechsel im Bundestag sein.
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Die Nervosität steigt auf allen Seiten
Doch der Kurswechsel passt nicht jedem in der FDP. CDU-Kandidat Gerhard Schröder braucht nur etwa 40 Stimmen aus den Reihen der Liberalen, um gewählt zu werden. Noch am Tag vor der Bundesversammlung streiten die FDP-Delegierten erbittert um die Linie bei der Abstimmung. Es gibt mehrere Probeläufe, schließlich wollen 77 von 82 anwesenden FDP-Leute für Heinemann votieren. Das müsste reichen für Heinemann.
Es ist kurz nach 12 Uhr, Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel das Ergebnis des ersten Wahlgangs bekanntgibt: „Für den Kandidaten Dr. Heinemann sind 514 Stimmen, für den Kandidaten Dr. Schröder 499 Stimmen abgegeben worden. Enthalten haben sich sechs Mitglieder. Zwei Stimmen sind ungültig.“ Heinemann fehlten fünf Simmen zum Sieg. Die Nervosität auf allen Seiten steigt. Und auch der zweite Wahlgang bringt keinen Sieger: 511 Stimmen für Heinemann, 507 für Schröder, fünf Enthaltungen. Nun ist klar: Im dritten Durchgang, in dem die einfache Mehrheit genügt, könnten tatsächlich die Stimmen der NPD den Ausschlag geben.
Schon im zweiten Wahlgang hatte die Rechtsextremen für Schröder gestimmt. Der CDU-Kandidat stört sich daran nicht. Er lässt verlauten, die NPD-Mitglieder der Bundesversammlung seien „schließlich auch demokratisch gewählt“. SPD-Chef Willy Brandt sieht das ganz anders und kommentiert bissig: „Für jeden anständigen Menschen hat Schröder nur 485 Stimmen.“
Willy Brandt: „Eine imponierende Leistung“
Dann der dritte und entscheidende Wahlgang. Wieder ist es knapp. gegen 18 Uhr steht fest: Für Heinemann votieren 512 Delegierte, für Schröder 506, fünf enthalten sich. Sozialdemokrat Heinemann ist gewählt. Den Ausschlag geben schließlich die Liberalen, die fast geschlossen für den SPD-Kandidaten stimmen. SPD-Chef Brandt lobt die FDP: „Das war eine imponierende Leistung. Sie haben es nicht leicht gehabt.“
Mit diesem politischen Schwenk legt die FDP letztlich den Grundstein für die sozial-liberale Koalition im Bund, die Brandt und FDP-Chef Walter Scheel nach der Bundestagswahl sieben Monate später besiegeln werden. Dass es so kommen könnte, deutet sich aber schon wenige Tage nach der dramatischen Bundesversammlung vom Pfingstmontag in Berlin an. Da erklärte Gustav Heinemann, mit seiner Wahl habe sich „ein Stück Machtwechsel vollzogen, und zwar nach den Regeln einer parlamentarischen Demokratie“.
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