Bochum. Anna Neumann, 26 Jahre alt, will in den Bundestag. Ihre Mission: Sozialer Aufstieg für alle. Doch ist sie dafür nicht in der falschen Partei?
Anna Neumann steht kerzengerade an einem Stehtisch neben Christian Lindner. Es ist früher Abend in Bochum, der Platz in der City ist rappelvoll – und dieser Auftritt der Höhepunkt ihrer etwa 70 Wahlkampftermine. Sie verschränkt die Arme hinter dem Rücken, in den Händen hält sie ihr Smartphone. Nervös kratzt sie mit dem Daumen über die Handyhülle. Dann ruft der Moderator ihren Namen.
Neumann, 26, will für die FDP in den Bundestag. Sie hat gegen die Direktkandidaten in ihrem Wahlkreis kaum eine Chance, aber sie steht auf Platz 28 der Landesliste. Holen die Liberalen zwischen 13 und 15 Prozent, hat Neumann ihren Sitz im Parlament so gut wie sicher. Sie kämpft für sozialen Aufstieg. Die Bundestagskandidatin ist in Welper aufgewachsen, einem Stadtteil in Hattingen, wo die meisten Menschen SPD wählen. Ihr Vater ist Zahntechniker, die Mutter Pflegerin. Doch wer ist Anna Neumann? Und was fasziniert sie, ausgerechnet, an der FDP?
Anna Neumann will in den Bundestag einziehen – sie kämpft für sozialen Aufstieg
Oben auf der Bühne ist ihre Anspannung verflogen. Vor ihr stehen etwa 400 überwiegend junge Menschen in T-Shirt und Jeans. Sie spricht mit fester Stimme, blickt direkt ins Publikum, braucht kein Manuskript. Mit dem braunen Kleid, der schwarzen Jacke und den zu Locken gedrehten Haaren wirkt sie fast festlich. Ihr Thema: Steuersenkungen. „Es ist Sabotage an den Chancen einer ganzen Generation, jetzt keine Entlastungen zu fordern“, ruft sie ins Mikrofon.
Sie steht heute nicht nur neben Christian Lindner, sie ist auch wegen ihm hier. Eines Tages im Frühjahr 2017 fuhr sie mit dem Auto an einem Wahlplakat der FDP vorbei: Lindner in Schwarz-Weiß vor einem vollen Hörsaal, dazu der Spruch: Lasst uns genauso hart für Bildung arbeiten wie unsere Kinder. In dem Moment ist ihr Entschluss gefallen, in die FDP einzutreten. Noch am selben Abend füllte sie den Mitgliedsantrag aus. „Mich hat überzeugt, dass die FDP als einzige Partei wirklich liberal ist, mit Betonung auf Selbstbestimmung. Und das Versprechen, dass jede und jeder aufsteigen kann – wenn der Einsatz stimmt.“ Ihr Mantra.
Neumann sagt, schon in der Mittelstufe am Gymnasium in Hattingen habe sie angefangen, sich für Politik zu interessieren – ihr Erweckungserlebnis sei die Entscheidung gewesen, Religion abzuwählen und stattdessen den Philosophiekurs zu besuchen. „Ich wollte wissen, was Liberalismus, Weltanschauung und Ideologie bedeuten. Ich hatte richtig Spaß daran, im Unterricht meinen Standpunkt zu vertreten.“
Als Jugendliche fühlt sie sich zu Hause von ihren Eltern eingeschränkt
In dieser Zeit spürte sie auch, dass sie sich zu Hause in Welper eingeengt fühlte, wenig Raum hatte, sich zurückzuziehen. Sie durfte nur selten Freunde einladen. War sie unterwegs, rief die Mutter an, um zu fragen, wo sie sich aufhalte, wann sie zurückkomme. So schnell es ging, wollte sie finanziell unabhängig sein. Mit 16 Jahren hat sie Zeitungen ausgetragen, später arbeitete sie in einer Fahrschule, im Fitnessstudio, im Kino. Heute verdient sie ihr Geld, indem sie die Social-Media-Kanäle der FDP betreut.
Sie studierte direkt nach dem Abitur in Bochum Management and Economics. Das lag ihr nicht, irgendwann schaute sie den ganzen Tag nur noch Videos auf Youtube. „Ich bin etwas naiv an das Studium rangegangen“, sagt sie „der Name klang gut, ich dachte, wenn ich das studiere, werde ich Top-Managerin bei Apple oder so.“ Sie schmeißt und schreibt sich für Geschichte und Germanistik ein. Kurz darauf zieht sie in eine eigene Wohnung. Sie wollte ihr Leben neu ausrichten. Ihre Freiheit finden.
Neumann holte in ihrem Wahlkreis das historisch beste Ergebnis für die FDP
Was heißt für sie eigentlich liberal? Neumann sieht das so: Linke, Grüne und SPD seien gesellschaftlich liberal, aber wirtschaftlich eher sozialistisch („Steuererhöhung, Vermögens- und Erbschaftssteuer“) – bei der Union verhalte es sich genau umgekehrt. Die CDU denke „hart rückständig“, Beispiel Homoehe. „Nur die FDP ist wirtschaftlich und gesellschaftlich liberal.“
Kurz nach ihrem Eintritt zeigte sie ihren neuen Parteifreunden, dass sie ein Instrument der Macht von Natur aus beherrscht: die Psychologie des Überzeugens. Beim Wettkampf unter Jungliberalen rekrutierte sie die meisten Mitglieder für die Jugendorganisation. Als Belohnung durfte sie nach Berlin reisen, um mit dem Chef Espresso zu trinken. Immer wieder Lindner.
Bei der Kommunalwahl 2020 holte sie für Welper das historisch beste Ergebnis. Sie steigerte es von einem auf zwölf Prozent. Danach fragten Politiker der CDU, ob sie nicht zu ihnen wechseln möchte. Marco Buschmann, Erster Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, hat sie angerufen, um zu gratulieren.
Marco Buschmann lobt Neumann, sie „zeigt ihre ganze Leidenschaft für die Freiheit“
Fragt man ihn, was er von Neumann hält, sagt er: „Eine sehr couragierte Kollegin. Sie ist belesen, hat Spaß daran, sich in komplizierte Sachverhalte einzuarbeiten und ist genauso mit dabei, wenn es gilt, die Ärmel hochzukrempeln. In Wahlkämpfen spielt sie konsequent Teamplay und zeigt ihre ganze Leidenschaft für die Freiheit.“ Buschmann sagt, der Reiz für junge Menschen in die FDP einzutreten ist auch, gute Möglichkeiten zu haben, früh den Sprung in den Bundestag schaffen.
Den Sprung schaffen, das will auch Anna Neumann natürlich. Ihre Lieblingsfigur in der Fantasy-Reihe „Game of Thrones” ist nicht von ungefähr die Drachenkönigin, die viele Städte von der Sklaverei befreit. Auch wenn es mit der ein böses Ende nimmt – „ich bewundere ihre Disziplin, ihre Leidensfähigkeit bis zum bitteren Ende.”
Einige Tage vor der Rede in Bochum besucht Neumann in Sprockhövel die Brennerei Habbel. Ihren weißen 4er BMW parkt sie lieber um die Ecke, sie will darin nicht gesehen werden. „In Deutschland denken die Leute, wenn du viel Geld hast, kommt das vom Schicksal oder Zufall – und nicht von Leistung oder harter Arbeit.“
Gin trinken und Sympathiepunkte sammeln
Die Geschäftsführerin Michaela Habbel und Neumann laufen durch die Brennerei, es riecht etwas kellerig und nach Holz, in Regalen stehen hunderte Flaschen, Gin, Kräuterlikör, Kirschbrand. Dann zeigt Neumann auf eine Flasche. „Das ist euer prämierter Whisky“, sagt sie. Sie geht einen Schritt auf die Flasche zu, beugt sich nah heran und liest das Etikett.
Sie fragt, wie sie den Whisky produzieren, wie er schmeckt, wie viele sie davon verkaufen. Sie lässt Habbel viel Zeit zum Antworten, schaut mit ihren braunen Augen aufmerksam ins Gesicht, nickt, lächelt. Sie gibt ihr das Gefühl, dass es sich gerade alles auf der Welt um diesen einen Whisky dreht. Bis Neumann 13 war, hat sie bei SG Welper Fußball gespielt. Im Gespräch mit Habbel ist sie wieder Stürmerin, voll fokussiert. Der wache Blick, total präsent. Michaela Habbel bietet an zu probieren. „Ein Gin wäre besser“, sagt Neumann. „Aber nur ein winziger Schluck.“ Sie habe kaum gegessen und müsse noch zurück nach Hattingen fahren. Sie nippt am Gin, hält einen Moment inne und sagt leise: „Wirklich gut.“
Oben im Restaurant der Brennerei reden sie über Männer, die Frauen den Aufstieg verwehren. Neumann sagt: „Ich kriege immer wieder Kommentare im Internet, die nur darauf abzielen, mich auf mein Geschlecht zu reduzieren. Ich kann damit umgehen. Viele lassen sich aber verunsichern und engagieren sich dann nicht mehr politisch.“ Habbel sagt, das kenne sie zu gut.
„Neumann hat ein Bombenergebnis hingelegt“
Am Abend lädt Neumann auf Instagram Bilder vom Treffen hoch und fasst darunter die Erkenntnis des Tages zusammen: Unternehmen sollten nicht weiter steuerlich belasten werden, es gefährde Arbeitsplätze. Zudem müsse die Bürokratie für Unternehmer gesenkt werden. Michaela Habbel sagt auf Nachfrage, sie finde die Kandidatin total klasse: „Sie bringt hier frischen Wind rein, das tut der Region gut.“
Anruf bei Rainer Bovermann, der Politikwissenschaftler von der Ruhruniversität Bochum ist als Vorsitzender des Ortsverbandes der Sozialdemokraten in Welper der politische Gegner. Macht er sich Sorgen, dass die FDP in der SPD-Hochburg bald das Zepter übernimmt? „Neumann hat ein Bombenergebnis hingelegt“, sagt er. „Innerhalb der SPD wurde das schon wahrgenommen, aber wir sind nicht in Panik.“
Die Wahlbeteiligung in Welper ist sehr niedrig. Die zwölf Prozent setzen sich lediglich aus 100 Stimmen zusammen. Innerhalb der SPD kursiere die Erzählung, sagt Bovermann, dass Neumanns Vater im Vereinsleben in Welper gut vernetzt ist und für seine Tochter mobilisierte. „Neumann ist modern, jung, agil. Es wundert mich nicht, dass sie Leute mitreißen kann.“
Gibt es auch etwas, dass Neumann noch lernen muss? „Sie ist ein Dickkopf“
Auch in Bochum mischt sie sich nach ihrer Rede unter die Menschen vor der Bühne. Ein älterer Mann erzählt ihr etwas von Solarpanels auf seinem Dach. Neumann wirkt munter, hört sich den langen Monolog kopfnickend und lächelnd an. Sie signalisiert Zustimmung, indem sie mit der flachen Hand auf ihn zeigt, wenn er etwas sagt, was sie richtig findet. Fragt man, mit welcher Haltung sie in solche, mitunter wirren Gespräche geht, sagt sie: „Egal, was einer alles so erzählt, irgendwas Vernünftiges hat jeder beizutragen.“ Dieses Fitzelchen Vernünftiges destilliert Neumann, macht es zum Thema des Gesprächs und führt noch ein Argument an, warum ihr Gegenüber recht hat. Psychologie des Überzeugens – so macht sie sich sympathisch.
Gibt es auch irgendwas, das sie nicht gut kann? Jenny Droste, Kreisvorsitzende der Jungen Liberalen von Ennepe-Ruhr: „Ihre größte Stärke ist auch ihre größte Schwäche: Sie ist ein Dickkopf, halt ein Steinbock.“ Droste erinnert sich an Diskussionen über Wahlrecht ab 16 Jahren und Meisterzwang. Da habe Neumann einfach nicht von ihrem Standpunkt weichen wollen, obwohl selbst Handwerker und 16-Jährige gegen sie waren. „Anna ist 100 Prozent loyal. Wenn wir etwas beschlossen haben, was sie vorher abgelehnt hat, dann vertritt sie den Beschluss trotzdem mit voller Kraft.“
Nach der Wahlkampfrede erstmal eine Currywurst mit Parmesan
Eine 16-Jährige bedankt sich bei Neumann für die Rede, sie könne zwar nicht alles gutheißen, aber eine bessere Partei als die FDP gebe es gerade nicht. Sie erzählt, dass sie allein im Klassenzimmer bleibe, wenn ihre Mitschüler freitags in Bochum gegen die Klimapolitik protestieren. Neumann ermutigt sie in die FDP einzutreten, sie tauschen Nummern aus. „Wir brauchen dringend junge Frauen in der Politik“, sagt sie ihr zum Abschied. Auch dafür ist ihr Wahlkampf gut, selbst wenn es am Ende nicht für das große Ziel reichen sollte: Sie gewinnt Neumitglieder, macht die FDP größer.
Zieht sie nicht ins Parlament ein, hat sie einen Plan B: Master Philosophy, Politics and Economics an der privaten Uni in Witten-Herdecke studieren. Vielleicht wird sie so doch noch Top-Managerin bei Apple oder so. „Mein Kreislauf!“, sagt Anna Neumann, als sich Platz in der Innenstadt leert, „ich brauche dringend eine Currywurst.“ Auf dem Weg zur Bude im Bermudadreieck wiederholt sie: „Die Schülerin ist allein in der Klasse geblieben, während alle anderen streiken gegangen sind. Diese Standfestigkeit feiere ich.“ Sie zückt ihr Handy und schaut sich das Selfie mit Lindner an. „Schon sehr gut geworden, das Bild.“
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