Duisburg. Jedes zehnte Kleinkind spricht erst spät – ungünstig für die Entwicklung! Für „Late Talker“ gibt es ein Training – es richtet sich an die Eltern.
„Sag doch mal T-A-N-T-E!“ Doch das Kind sagt: nix. Nicht aus Trotz oder gar Unhöflichkeit, wie es gleichwohl oft von Tantchen empfunden wird. Sondern weil es noch nicht sprechen kann. Mit zwei Jahren? Ja, mit zwei Jahren, Herrgott! Das ist gar nicht so selten und vor allem: gar nicht so schlimm. Sprachverzögerten Kindern, den Late Talkern, kann geholfen werden. Etwa durch das „Heidelberger Elterntraining“. Wie, E-L-T-E-R-Ntraining? Die können doch reden, möchte man meinen. Doch tatsächlich richtet sich das Programm nicht an die Kleinen selbst, sondern an die Großen – die einiges tun können, um die Sprachentwicklung zu fördern. Und nicht zu hemmen.
„Mit dem Kind stimmt doch was nicht“
„Ständig sagen einem die Leute, mit dem Kind stimmt doch was nicht. Solche Sätze konnte ich nicht nur schwer verdauen, vor allem habe ich mir selbst dann irgendwann Gedanken gemacht.“ Das sagt Sabrina Ostojic. Die 37-Jährige arbeitet als Arzthelferin auf der Wochenstation in der Helios St. Anna Klinik in Duisburg, wo ihr die Stillberaterin den Tipp gegeben hat, sich an das angegliederte Sozialpädiatrische Zentrum zu wenden. Was die Kinderärztin sehr befürwortet hat. Dort sitzt sie heute mit Malino, ihrem dreijährigen Lockenkopf, und dieser Sonnenschein lässt sofort vergessen, dass wegen dieses Themas „schon viele Tränen geflossen sind“. Er spricht! Dabei hatte es „Mali“ zunächst bei Zeichen und Lauten belassen, etwa ein Hecheln für Trinken und ein Njam-Njam für Essen.
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Für Sprachtherapeut Hans-Christian Stoll nicht etwa die befürchtete Katastrophe, wie sich Sabrina Ostojic erinnert: „Man macht sich ja selbst schon Vorwürfe. Aber dann hat er das Schönste gesagt, was er hätte sagen können. Nämlich, wie toll mein Kind ist, dass es eine eigene Sprache entwickelt, um sich zu verständigen.“ Und dass man diese Sprache annehmen soll, unterstützend und bestärkend. Im Kurs hat sie dann erkannt, nicht, dass sie etwas falsch macht. „Sondern dass ich einfach mal den Mund halten muss. Ich erzähle halt selbst in einer Tour, da kam mein Sohn überhaupt nicht zu Wort.“ Sie schwieg öfter, um Malino die Chance zu geben, sich selbst ausdrücken zu können. Ihr Lernerfolg: „Zeit geben und Zutrauen schenken.“ Das Kind anzunehmen, dass es so, wie es ist: gut ist.
Bilderbuchbeispiel Bilderbuch. Kein Kinderspiel! Mit offenen Fragen wie „Was siehst du da?“ oder „Was passiert denn da?“ motiviert man mehr als durch bloßes Abfragen („Wo ist die Kuh?“, „Wie macht das Schwein?“). Wichtig auch, dass das Kind führt. Das heißt, es sucht sich das Buch selbst aus, blättert eigenständig und bestimmt auf den Seiten, was es interessiert, und das Elternteil folgt dem, empfiehlt Stoll. „Dabei Pausen entstehen lassen, damit sich die Gedanken sortieren und in Sprache verwandeln lassen können. So werden die Eltern angehalten, mit ihren Kindern auf Augenhöhe zu kommunizieren. Das ist wörtlich gemeint: hinknien oder runterbücken. Und lächeln! „Blickkontakt ist die Basis von Kommunikation“, erklärt der Logopäde. Damit werde so ein kleiner Mensch viel mehr wahr- und als Person ernstgenommen. „Diese freundliche Zugewandtheit, auch das Zuhören, das wirkt ganz lange nach, damit fährt man später noch gut, bis hin zur Pubertät – es hilft immer.“
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Das Training als Selbsthilfegruppe? „Wenn die anderen in der Runde alle nicken, wenn man von seinen Erfahrungen berichtet, dann merkte man auch, man ist damit gar nicht allein“, sagt Sabrina Ostojic. Tatsächlich weisen laut Studien bis zu 18 Prozent der Zweijährigen eine Sprachentwicklungsverzögerung auf. Davon holen zwar, auch dank solcher Programme, manche im dritten Lebensjahr auf. Hans-Christian Stoll: „Unser Ziel ist es, die Rate der Aufholer zu erhöhen.“ Doch bei zehn Prozent zeigen sich im weiteren Verlauf immer noch Sprachauffälligkeiten. „Deshalb wollen wir mit drei alle Kinder mit einer Sprachentwicklungsverzögerung bei der logopädischen Diagnostik sehen. So erkennen wir früh, wer eine Einzeltherapie benötigt.“
Früher dachte man, es wächst sich raus
Ist das nicht alles ein bisschen früh? So dachte man. Noch vor 20 Jahren, sagt Stoll, habe man bei Sprachlosigkeit bis zum 4. Geburtstag überhaupt nichts unternommen. „Es hieß, wir warten ab, wird schon, das wächst sich aus. Aber es blieb dann doch bei zwei Dritteln der Kinder auffällig.“ Von der Geburt bis zum 6. Lebensjahr, das sei eine ganz wichtige, die sogenannte sprachsensible Phase, „da werden die Grundzüge der Sprache erworben, so gut wie in diesem Fenster lernen wir später nie wieder. Deshalb muss man diese Zeit nutzen. Und um dieser Verzögerung vorzubauen, wollen wir schnell helfen.“ Sprich: eher anfangen. Wobei es natürlich schwierig bis unmöglich ist, mit Kindern in diesem Alter zu arbeiten, „da kommt noch nicht so viel bei rum“ – weswegen man sich an die Eltern richte. „Sie sind einfach die wichtigste Kommunikationsperson. Sie sehen ihr Kind jeden Tag, spielen mit ihm, können es am direktesten sprachlich fördern.“ So entstand an der Universität Heidelberg die Idee eines Elterntrainings, durch das die Erwachsenen systematisch lernen, was Sprachförderung bedeutet – „denn wie das am besten geht, das ist überhaupt nicht selbstverständlich und oft unklar.“
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Doch ab wann muss man sich Gedanken machen? Stoll benennt die Schwelle für Zweijährige: einen Wortschatz unter 50 und noch keine Zwei-Wort-Konstruktionen wie „ich auch“, „Papa da“, „Mama komm“. Als „Vokabular“ gelten dabei auch Imitationen von Tiergeräuschen, jene kindersprachlichen Ausdrücke wie Muh für Kuh oder Wauwau und Miau, die Eltern – in Verbindung mit dem korrekten Begriff – durchaus nutzen sollten. „Jede Wortform ist erstmal etwas Gutes, dazu gehören auf jeden Fall Zeigegesten. Wir unterstützen ja auch die nonverbale Kommunikation, das hat sich komplett gewandelt. Früher hieß es: Na, wenn das Kind immer nur zeigt und man alles versteht, dann lernt es doch nie zu reden. Wir wissen heute: Je kommunikativer, desto besser die Sprache.“
Diese Sprechfreude ist für den Logopäden das Allerwichtigste, „sozusagen der Motor für die Sprachentwicklung“ – sie dürfe nicht aus Angst, Fehler zu machen, verloren gehen. Deswegen sieht der 50-jährige, dreifache Familienvater auch die größte Gefahr darin, ein Kind aktiv zu korrigieren, ihm zu signalisieren, dass es etwas falsch gemacht hat, oder es drängelnd auffordern zu sprechen – „das erhöht nur den Druck und bewirkt das Gegenteil. Kinder, die ungehemmt vor sich hin plappern, entwickeln sich immer besser als diejenigen, die Angst vor einem Misserfolg haben.“
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Ein Weg kann auch das Singen sein, der Sprachentwicklung einen Anstoß zu verleihen. Denn: Die Texte und die Rhythmik produzieren lange Laut- und Wortketten, die Kinder normalerweise noch gar nicht könnten. Das führt auch durch die Wiederholungen zu einem Training für die Sprachfunktionen, sowie zur Verbesserung der Artikulation. Hans-Christian Stoll hat diesen Part des Programms als studierter Musiker selbst entwickelt, singt auch gemeinsam mit den Mamas und Papas: Auf der Lauer, auf der Mauer… oder Grün, grün, grün, sind alle meine Kleider. „Durch die Gemeinsamkeit kann ein unglaublicher Schub entstehen, weil da viel im Sprachzentrum passiert.“ Tipp: „Einfach das Singen ganz natürlich in den Alltag integrieren, zum Beispiel beim Kochen.“
Im Prinzip eine Therapie für die Eltern
Langmut ist das Zauberwort, auch und gerade wenn’s mal zu stagnieren scheint. „Kinder brauchen Zeit, alles zu verarbeiten. Wir haben als Erwachsene viel zu hohe Erwartungen“, so Hans-Christian Stoll. „Dreijährige müssen noch nicht Bitte und Danke sagen, auch Zahlen und Farben sind noch nicht dran.“ Viel wichtiger sei eben die Freude am Ausdruck. „Kommunikation mit Kindern ist eine große Kunst.“
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Bei Familie Ostojic gibt es noch eine ältere Schwester, die fünfjährige Alica. Das Mädchen sprach nicht nur selbst ohne Probleme, sie verstand auch teilweise als einzige ihren kleinen Bruder. Diese Verständnisblockade, sie führte öfter zu Frustration, erzählt die Mutter. „Er hatte Wutausbrüche ohne Ende, wir waren manchmal mit den Nerven völlig fertig, wenn er nicht rüberbringen konnte, was er wollte. Das hat ihn sauer gemacht – und das war auch nicht einfach für uns, ihn in solchen Momenten so leiden zu sehen. Zumal Malino sonst auch ohne Worte ein glücklicher, lebensfroher Bengel war.“ Wenn das Kind den Druck nicht mehr hat, gehe es fast von allein, sagt sie. „Wenn man sich dann noch selbst den Druck rausnimmt, spürt man direkt auch die Erleichterung. Es war im Prinzip eine Therapie auch für die Eltern.“
Die Fortschritte seien nun besser als erwartet. Sabrina Ostojic strahlt: „Der Sprachschatz hat sich bei Mali innerhalb von einem halben Jahr von zehn auf über 200 verbessert.“ Auf diesen Effekt warten viele Geduld-geprüfte Eltern. „Wir nennen das Wortschatz-Explosion“, erklärt Stoll, „wenn der Knoten dann einmal platzt, kann das ganz schnell gehen. Das ist für mich immer noch das große Wunder der Sprache.“ Mit schönem Gruß ans Tantchen!
>>> Krankenkassen-Leistung <<<
Das Ziel des Heidelberger Elterntrainings zur frühen Sprachförderung ist die Stärkung der Kompetenz der Eltern als erste Kommunikationspartner. „Der Kinderarzt hat immer die letzte Entscheidung“, betont Sprachtherapeut Hans-Christian Stoll vom Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) an der Helios St. Anna Klinik in Duisburg. Danach beginne die interdisziplinäre Teamleistung mit Untersuchungen von Spezialisten etwa für die Bereiche Hören und Motorik, die immer auch mit dem Sprachzentrum zusammenhängt. Logopäde Stoll: „Das Programm spart auch Folgekosten: Wenn wir es schaffen, Kinder in die Sprache zu bekommen, dann brauchen sie nachher weniger Therapie.“
Das Elterntraining ist eine Leistung, die auf Antrag von der Krankenkasse übernommen werden kann. Es wird häufig in SPZ (in Essen z.B. im Elisabeth Krankenhaus) – aktuell wegen Corona via Zoom – sowie vereinzelt auch in logopädischen Praxen durchgeführt.