Bochum. Ob sich Kind und Karriere vertragen, wird in Deutschland seit Baerbock wieder diskutiert. Zwei Chirurginnen mit sieben Kindern haben die Antwort.
Dr. Nora Mayböck lächelt viel, ihre Schicht im Bochumer St. Josef-Hospital ist zu Ende, daheim und auf dem Fußballplatz warten die Kinder. Vier Jungs von zwei bis acht Jahren. Den ein oder anderen wird sie unterwegs einsammeln, zu Hause dann ihren Mann ablösen. „Ich hätte auch fünf genommen“, sagt die 45-Jährige Gefäßchirurgin mit dem nächsten breiten Lächeln. Es lässt keinen Zweifel daran, dass sie das wirklich so meint. Kind und Karriere – die Debatte ist für sie lange durch.
Nicht so für die Politik und die Gesellschaft in Deutschland. Als die Grünen ihre 40-jährige Parteichefin Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin kürten, gehörte zu den ersten Fragen, wie sie denn Kanzleramt und ihre zwei Kinder unter einen Hut kriegen wolle. Ob eine Mutter Kanzlerin sein könne, wurde in konservativen Kreisen ernsthaft diskutiert. Und in den weniger konservativen darüber hergezogen, wie rückständig man sein könne, diese Frage anno 2021 noch zu stellen.
Kind und Karriere? Leider noch eine deutsche Debatte
Dabei ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie jeden Tag ein Thema für abertausende Paare in Deutschland. Nur entscheidet die Frage, ob einer und wer von beiden beruflich mehr zurückstecken soll, oft nicht mehr das Geschlecht, sondern das Gehalt. Dass es in Deutschland schwerer ist als etwa in Frankreich, den Niederlanden oder Schweden, als Eltern zwei Vollzeitjobs zu behalten, wäre demnach ein sehr aktuelles Thema für die Politik. Es rückt aktuell aber schon deshalb wieder in den Hintergrund, weil Annalena Baerbock ganz andere und sehr zeitlose Angriffsflächen bietet. Abschreiben war noch nie zeitgemäß.
Baerbocks Kinder wären aber wohl auch kein Thema geworden, wenn sie nur für den Bundestag und nicht fürs Kanzleramt kandidieren würde. Entsprechend war auch im Krankenhaus die Skepsis gegenüber Müttern lange im OP größer als im Schwesternzimmer. Dr. Monika Janot-Matuschek (43) war die erste Chirurgin mit Kind in ihrer Abteilung, der Bauchchirurgie. Das ändert sich gerade: „Die älteren Kolleginnen haben keine Kinder, einige jüngere schon.“
Beide Oberärztinnen haben ihren Mann im Krankenhaus kennengelernt, Nora Mayböck in ihrem Praxisjahr, Monika Janot-Matuschek im OP, bei einer Pankreas-Operation ihres späteren Mannes. „Ich war dabei“, lacht Kollegin Mayböck. Was sie noch eint: Beide haben sich nicht eben die familienfreundlichsten Bereiche der Medizin ausgesucht: Gefäßchirurgin Mayböck operiert „über die Maßen viele Notfälle“, wie sie sagt. Planbar ist wenig, und auch wenn sie zuhause ist, kann das Telefon jederzeit klingeln. Gefäßverschlüsse wie Thrombosen, Embolien und Aneurysmen müssen sofort operiert werden, oft geht es um Leben und Tod.
Das ist bei Monika Janot-Matuschek, Mutter von zwei Töchtern und einem Sohn zwischen vier und elf Jahren, ähnlich: Sie operiert Bauchspeicheldrüsen, Magen, Gallenblasen, und alles, was in der Bauchhöhle Ärger machen kann, auch hier sind Not-OPs an der Tagesordnung. Natürlich sei das ein Spagat und ihre familienunfreundlichen Arbeitszeiten „fuchsen“ sie schon manchmal, sagt sie. Gerne würde sie öfter bei den Hausaufgaben daneben sitzen. Im Corona-Jahr sei beim Homeschooling noch viel mehr an den Eltern hängen geblieben.
Neben der Kita braucht es noch eine Tagesmutter, die Dienste wollen gut mit ihrem Mann abgestimmt sein, auch wohnt die Mutter bei ihrer Familie, als „Puffer für alles“. Aber klar: Je mehr Hobbys die Kinder entdecken, je mehr Stress in der Schule dazukommt, umso anstrengender wird es. Irgendwie geht es aber immer, sagt sie. Ihr Rezept: „Es ist wichtig, eine gewisse Leichtigkeit an den Tag zu legen. Man darf den Kindern kein schlechtes Gewissen machen für den eigenen Stress, schließlich haben wir uns bewusst so entschieden.“
Für Mayböck war klar, dass sie trotz der Kinder immer voll arbeiten wolle, „da habe ich zu Hause mit offenen Karten gespielt“. Ihr Mann habe mitgemacht, sonst wäre es nicht gegangen, räumt sie ein. Zumal es nach wie vor auch in ihrem Wohnort Hattingen nicht üblich ist, die Kinder sehr früh in die Kita zu bringen. Da gab es für Janot-Matuschek gar kein Vertun: Ihr Mann arbeitet inzwischen an einer Düsseldorfer Klinik und sie in Bochum, beide Vollzeit. „Als ich mein Kind mit vier Monaten abgegeben habe, musste ich mir schon einiges anhören“, sagt sie.
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In Deutschland ist es gesellschaftlich tatsächlich kaum akzeptiert, Kinder unter einem Jahr in die Betreuung zu geben – laut Allensbach-Umfrage heißen das in Westdeutschland nur vier von 100 Erwachsenen gut. Auch in Frankreich ist das nicht unumstritten, doch dort findet schon mehr als jeder dritte (35 Prozent), ein Unter-Einjähriges könne gut in der Krippe betreut werden.
Nora Mayböck hat einen ungewöhnlichen Weg in den OP hinter sich: Zunächst arbeitete sie als Krankenpflegerin, begann erst mit 28 Jahren zu studieren. Danach startete sie durch – im Beruf wie in der Familienplanung. Sie bewege sich zuweilen schon am Limit, räumt sie ein, aber: „Ich habe einen super Job und ein sehr glückliches Familienleben. Ich will nichts anderes machen.“
Das heißt: morgens Brote schmieren, die Kinder fertig machen und in die Kita oder Schule bringen, und nach der Arbeit ist vor der Kinderbetreuung. Dass sie auch nachts öfter mal raus muss, wenn sie Rufbereitschaft hat, haben die Kinder früh gelernt: „Mama Dienst“ seien mit ihre ersten Worte gewesen. Zumal Mama auch mal 24 Stunden nicht da ist, wenn sie einmal im Monat eine Schicht im Notarztwagen übernimmt.
So zufrieden wie die beiden Chirurginnen ist die Mehrheit der berufstätigen Eltern nicht: 56 Prozent der arbeitenden Mütter und Väter in Deutschland plagen laut Forsa-Umfrage Gewissensbisse, weil sie glauben, beim Verknüpfen von Beruf und Familie komme immer jemand zu kurz – vor allem die Kinder, aber auch der Partner und man selbst.
Umgekehrt ist die Vorstellung, die Leute würden mehr Kinder kriegen, wenn sie weniger arbeiten würden, erwiesenermaßen falsch. Frankreich hatte jahrzehntelang eine um 50 Prozent höhere Geburtenrate als Deutschland bei gleichzeitig deutlich höherer Vollzeittätigkeit der Frauen. Die Voraussetzung dafür war der massive Ausbau der Kinderbetreuung, ganztags in der Krippe und für jedes Kind obligatorisch auch in der Grundschule. In Deutschland mussten sich Frauen auch wegen fehlender Betreuungsmöglichkeiten gerade bei höheren Karrierezielen zwischen Kind und Beruf entscheiden.
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Christoph Hanefeld, Geschäftsführer des Katholischen Klinikums Bochum mit sechs Häusern, weiß das noch gut. Es sei auch heute noch „eine Herausforderung“, Ärztinnen mit Kindern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen. Aber: „Vor 20 Jahren wäre das schwierig bis unmöglich gewesen“, sagt Hanefeld. Wie heilfroh er ist, dass sich das geändert hat, spricht aus seinen nächsten Sätzen: Nora Mayböck und Monika Janot-Matuschek seien „eine unglaubliche Bereicherung für uns“, sagt der Klinikchef. Was er gesehen hat: Wer eine große Familie so gut organisiert bekomme, kriege das auch im Beruf hin.
„Es ist schön zu zeigen, dass es funktioniert“, sagt Monika Janot-Matuschek. Sie weiß, dass es mit dem staatlichen Betreuungssystem allein nicht ginge und viele andere Familien sich zusätzliche Betreuung gar nicht leisten können. Dass es wie in Frankreich oder Skandinavien jeder Frau möglich sein sollte zu arbeiten, sei in Deutschland „in den Köpfen noch nicht angekommen“. Warum sie Kinder kriege, wenn sie nicht zuhause sei, werde sie nach wie vor gefragt.
Mayböck nennt es „komische Debatten“, etwa als Angela Merkel vorgeworfen wurde, sie verstecke ihren Mann. Und nun natürlich, wenn die grüne Spitzenkandidatin Baerbock gefragt wird, wie sie denn Kanzleramt und Kinder vereinbaren wolle. „Solche Fragen werden einem Mann nicht gestellt.“