Oberhausen/Düsseldorf. Laut Schätzungen fehlen in NRW bis zu 500.000 alten- oder behindertengerechte Domizile. Die Nachfrage wird weiter steigen
Der Weg zu Jennifer Lorenz führt über eine Rampe und durch einen Flur mit Aufzug in die zweite Etage eines Hochhauses zu einer aufgeschlossenen jungen Frau. „Hallo, willkommen“, sagt sie und winkt mit Corona-Abstand.
Die 32-Jährige sitzt im grauen Strickkleid am weißen Küchentisch ihrer Wohnung. 54 Quadratmeter, zweckdienlich, aber dekorativ eingerichtet, die Tür zum Balkon steht offen. Das Haus sei ruhiger als ihre alte Wohnung, trotzdem zentral und bis zur nächsten Bushaltestelle sei es nicht weit, erzählt Lorenz zufrieden. „Ich fühle mich hier wohl“, sagt sie. „Dass ich das hier gefunden habe, ist aber absolute Glückssache gewesen.“
Eine Wohnungsuche, die manchmal verzweifeln lässt und sauer macht
Über ein halbes Jahr hat Lorenz nach einer Wohnung gesucht. Hat zig Anzeigen im Internet durchforstet, herumtelefoniert und sogar juristische Hilfe in Anspruch genommen. Sie sei manchmal ganz verzweifelt und manchmal „ziemlich sauer“ gewesen, sagt die 32-Jährige. Dabei wollte Lorenz nun nicht das Unmögliche: Es sollte von Velbert nach Oberhausen gehen, in die Nähe ihres Freundes und weil Lorenz Grundsicherung bezieht, in eine bezahlbare Wohnung.
Nur das eine musste die neue Adresse eben auch sein: barrierefrei . Jennifer Lorenz sitzt seit Kindertagen im Rollstuhl und weiß aus Erfahrung: Barrierefrei und bezahlbar – da wird das Angebot überschaubar.
Und diese Situation könnte sich noch weiter verschärfen. Das zumindest befürchten Sozial- und Behindertenverbände und auch der Deutsche Mieterbund in NRW . Sie alle treibt eine geplante Änderung der Landesbauordnung um. Laut Gesetzesentwurf sollen neu geschaffene Wohnungen nicht mehr wie bisher „barrierefrei und eingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbar“ sein. Vielmehr sollen sie nur „im erforderlichen Umfang“ barrierefrei gebaut werden. Bestehende Barrieren können demnach auch nachträglich durch Vereinbarungen zwischen Vermietern und Mietern beseitigt werden.
Das komme einem K.O. für den barrierefreien Wohnungsbau gleich, kritisieren die Verbände. Der Mieterbund befürchtet, dass Standards aufgeweicht würden und Rückschritte in Sachen Barrierefreiheit zu erwarten seien. Der Sozialverband VdK sieht drohende Minimallösungen und warnt vor einem verschärften Wettbewerb um den auch für Senioren so wichtigen Wohnraum. Und die Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe ärgert sich, dass sich der Staat aus der Verantwortung ziehe.
Ist das so? Tatsächlich ist nicht klar, wie groß dieser Mangel ist. Denn wie viel barrierefreien Wohnraum es derzeit gibt und braucht, das wird weder bundesweit noch landesweit gezielt erfasst. Es gibt einzelne Erhebungen zum Bestand, etwa auf Basis des Mikrozensus 2018. Danach sind rund zwei Prozent der Wohnungen in Deutschland barrierefrei. Das heißt, dass sie festgelegte Standards einhalten müssen. Bäder müssen stufenlos begehbar sein, Breiten von Türen und Bewegungsflächen sind festgeschrieben.
Experten: Es braucht dreimal so viele barrierefreie Wohnungen
Der Sozialverband SoVD geht davon aus, dass es in Deutschland rund 800.000 barrierefreie Wohnungen gibt. Diese Zahl müsste aber verdreifacht werden, um den Bedarf zu decken. Denn der wächst seit Jahren allein dadurch, dass unsere Gesellschaft älter wird. Mehr als jeder fünfte Deutsche gehört zur Generation 65 plus , in zehn Jahren wird es mehr als jeder Vierte sein. Rund 6,2 Millionen Menschen werden dann die 80 erreicht oder überschritten haben.
Nachgefragt ist Wohnraum immer häufiger auch von Menschen wie Jennifer Lorenz, die mit einer Behinderung möglichst selbstständig leben wollen und nach bezahlbaren Wohnungen suchen. Menschen, die wegen einer Behinderung nicht arbeiten können, haben Anspruch auf Grundsicherung – damit fallen viele barrierefreie Wohnungen aus Kostengründen weg. Laut NRW-Teilhabebericht verfügen 18 Prozent der Menschen mit Behinderungen in Privathaushalten über barrierefreien Wohnraum.
Mieterbund: Besser alle Wohnungen barrierefrei bauen
Experten schätzen grob, dass in NRW bis zu 500.000 solcher Wohnungen fehlen. Bis 2035 rechnen Fachleute zudem mit einer Versorgungslücke von rund zwei Millionen altersgerechten Wohnungen in Deutschland.
Aichard Hoffmann vom Mieterverein Bochum spricht von einem „ungeheuren Bedarf“. „Früher waren Balkone ein wichtiges Thema. Inzwischen sind es barrierefreie Wohnungen“, so Hoffmann. Der Mieterbund fordert deshalb nicht nur, dass sich NRW intensiver um Barrierefreiheit kümmern und den Bedarf ermittelt. Nötig sei sogar, dass alle Wohnungen barrierefrei geplant würden. Das liege nicht nur im Interesse von Senioren und Menschen mit Behinderungen, sondern auch von Familien mit Kindern.
Die NRW-Landesregierung behauptet, sie unternehme alles – und viel mehr als die rot-grüne Vorgängerregierung – um die Lage schnell zu verbessern. Allein 2019 seien hierzulande fast 49.000 barrierefreie Wohnungen fertiggestellt worden. „Jede Wohnung, die nach dem 1. Januar 2019 genehmigt und in mehrgeschossigen Gebäuden errichtet wird, ist barrierefrei – egal, ob freifinanziert oder öffentlich-finanziert“, betont das NRW-Bauministerium. Es beruft sich zudem auf Zahlen aus Dortmund, Düsseldorf, Köln und Münster. Sie zeigten, „dass dort allein 2019 die Anzahl der rollstuhlgerechten Wohnungen um rund zehn Prozent gesteigert werden konnte“.
Ältere Gebäude haben mehr Barrieren als neuere
Je neuer die Gebäude, desto besser sind die Standards, rechnet die schwarz-gelbe Landesregierung vor. Bundesweite Daten aus dem Mikrozensus 2018 ließen diese Rückschlüsse zu. Denn nur 5,4 Prozent der Gebäude, die bis 1948 errichtet wurden, erfüllen demnach die Kriterien für Barrierefreiheit, dafür 44 Prozent der Gebäude, die ab 2011 entstanden.
Jennifer Lorenz‘ Suche zeigt, dass es mit der Statistik allein nicht getan ist. Sie berichtet von einer barrierefreien Wohnung, in der sie ihren Rollstuhl nicht richtig wenden konnte. Von einem Angebot, bei dem es plötzlich Stufen im Hausflur gab. Von einem, in dem Bewohner den Hausflur putzen und Schnee räumen sollten. Sie habe durchaus eine tolle erste Wohnung gefunden, die aber zu teuer war.
Es habe sich ja bereits einiges getan, sagt Lorenz versöhnlich, damit das Leben insgesamt barriereärmer werde. „Kneipen und Geschäfte und auch Bushaltestellen sind meistens stufenlos, das ist richtig gut.“ Aber wie könne es sein, dass jemandem solche Hürden in den Weg gelegt würden, wenn man eine bezahlbare Wohnung sucht?
Vereine werden selbst zu Bauherren, um den Mangel abzustellen
Weil das Angebot nicht ausreicht, werden inzwischen Vereine selbst zu Bauherren. Etwa in Oberhausen: Dort ist der Verein für körper- und mehrfachbehinderte Menschen Alsbachtal Träger einer Behinderteneinrichtung und über eine gemeinnützige Gesellschaft unter anderem Anbieter eines Pflegedienst. Und er baut Mehrfamilienhäuser.
Die ersten sind 2012 in Duisburg fertig geworden , das sechste soll im Dezember bezogen werden: Die zwölf Wohnungen samt Begegnungsstätte sind so konzipiert , dass dort Menschen mit und ohne Handicap zusammenleben. Sie sind als sozialer Wohnungsbau mietpreisgebunden und stehen trotzdem in einer beliebten Wohngegend – kein Wunder, dass die Nachfrage groß war.
„Barrierefreier Wohnraum an sich fehlt ja schon“, sagt Vereinsvorstand Josef Wörmann, bei bezahlbarem Wohnraum für Menschen mit einer Behinderung, die Grundsicherung beziehen, sei der Mangel noch größer. Dass trotz der starken Nachfrage das Angebot so gering sei, führt Wörmann auch auf den hohen Aufwand für allerlei Genehmigungen zurück, die auch im Zusammenhang mit sozialem Wohnungsbau auf Bauherren zukämen. „Barrierefreies Bauen an sich ist für uns nicht unbedingt teurer“, sagt er. Sein Verein arbeite direkt mit lokalen Unternehmen zusammen, das halte Preise im Rahmen.
Allerdings waren die Startvoraussetzungen auch ungewöhnlich: Der Oberhausener Alsbachtal-Verein konnte vor etwa 15 Jahren auf eine Erbschaft zurückgreifen, die ausdrücklich an die Schaffung von Wohnraum für Menschen mit Handicap gebunden war. „Ohne so ein Grundkapital ist es natürlich schwierig für Vereine wie unseren“, sagt Wörmann.
Improvisieren und akribisch nachfragen half, um Alternativen zu finden
Jennifer Lorenz hat ihr Zuhause auch deshalb gefunden, weil sie improvisieren kann. Sie schaute sich auch Anzeigen barrierearmer Wohnungen an. Was das im Unterschied bedeutet, kann die junge Frau gut an ihrer Bleibe verdeutlichen: Es gibt den Aufzug im Haus, aber er ist schmal. Die Türen in der Wohnung sind ausreichend breit für den Rollstuhl, aber zum Balkon muss eine Schwelle überwunden werden. Lorenz gelingt das, weil sie einige Schritte laufen kann. Akribisch musste sie dennoch vor der Wohnungsbesichtigung erfragen, wie hoch der Einstieg in die nicht stufenlose Duschtasse ist und ob ausreichend Platz für einen Stuhl darin vorhanden ist.
Trotzdem ist Lorenz zufrieden. Sie komme gut zurecht, sagt sie und man glaubt ihr das sofort. Mit etwas Bammel schaut sie wohl trotzdem in die Zukunft. Irgendwann wolle sie mit ihrem Freund zusammenziehen, verrät die 32-Jährige. Und dann muss eine neue Wohnung für zwei gefunden werden.
NRW-Bauministerien im Kurzinterview: „Mehr getan als je zuvor“
Frau Scharrenbach, Sozialverbände kritisieren, Sie wollten bei der Reform der Landesbauordnung die Barrierefreiheit schleifen. Haben Sie ein schlechtes Gewissen?
Ina Scharrenbach: Nein, weil das überhaupt nicht stimmt. Diese Landesregierung hat mehr für das barrierefreie Bauen getan als jede davor. Seit dem 1. Januar 2019 ist jede neue Wohnung im Geschosswohnungsbau barrierefrei. Jedes Bad hat vorgeschriebene Maße. Die Schwellen, auch bei den Duschen, werden abgesenkt. In den Eingängen gibt es Laufleisten für Sehbehinderte. Die Flure, die Türen, die Treppen sind breit. Das alles wurde mit den Sozialverbänden auch abgesprochen.
Nicht jede Wohnung ist rollstuhlgerecht.
Es ist auch nicht sachgerecht, jede Wohnung rollstuhlgerecht zu bauen, mit abgesenkten Schaltern und niedrigen Griffen. Es ist sachgerecht, dass jede neue Geschosswohnung barrierefrei ist.
Im Gesetzentwurf für die Landesbauordnung steht nur noch, dass „im erforderlichen Umfang barrierefrei“ gebaut werden soll.
Das lehnt sich an die Regeln für öffentliche Gebäude an und ändert inhaltlich gar nichts. Die Barrierefreiheit wird nämlich über technische Baubestimmungen definiert. Wie hoch eine Schwelle sein darf, wie breit eine Tür sein muss, das steht alles nicht in der Bauordnung. Wir haben insgesamt die Anforderungen für barrierefreies Bauen erhöht in NRW. Vorher gab es keine Regelung, dazu haben die Sozialverbände nichts gesagt. Jetzt haben wir klare und bessere Regeln eingeführt, und ich werde zu Unrecht kritisiert.
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