Neuss. Yulia Vershinina sitzt im Neusser Stadtrat. Und ist Domina. Sie möchte mit Vorurteilen über Frauen in der Politik und Sexarbeiterinnen aufräumen.
Als Domina in die Lokalpolitik – ja warum denn auch nicht? Yulia Vershinina steht zu ihrer Tätigkeit in der Fetisch-Szene – und möchte so mehr Toleranz bewirken.
Lack und Leder in der CDU: Hätten Sie als Kandidatin für andere Parteien genauso offen mit Ihrer Tätigkeit als Domina, Fetisch- und Gothicmodel umgehen können?
Viele sprechen von Authentizität, doch sobald diese unmittelbar ausgelebt wird, wird eine Abwehrhaltung eingenommen. Sicherlich würde ich auch in einer anderen Partei offen mit meinen Neigungen und Tätigkeiten umgehen, schließlich machen diese mich als Person aus. Sie sind gesetzeskonform und stellen nichts dar, wofür man sich schämen müsste. Ob allerdings eine andere Partei auch so aufgeschlossen darauf reagiert hätte, bezweifle ich. Vermutlich hätte es bei den Etablierten einen deutlich größeren Widerstand gegeben.
Sind Sie während des Wahlkampfes bei Veranstaltungen auch als Kunstfigur „Vivian Vaine“ in Erscheinung getreten?
Diese harte Trennung zwischen meiner bürgerlichen Existenz und Vivian Vaine als Kunstfigur mache ich gar nicht. Es sind einfach verschiedene Facetten von mir als Mensch. Am Wahlkampfstand war ich in Alltagskleidung unterwegs. Aber wenn es darum geht, ob ich in Lack und Latex die Werbetrommel für „die Partei“ bei den Wahlveranstaltungen gedreht hätte, dann ist die Antwort „nein“.
Auf einem Plakat haben Sie sich im Latex-Kostüm gezeigt, die Hände zur ikonischen „Merkelraute“ aneinander gelegt – ein Seitenhieb auf die gesellschaftlichen Erwartungen an Politikerinnen und ihr Äußeres?
Witzigerweise ist das Bild schon vor einigen Jahren und vollkommen außerhalb eines politischen Kontextes entstanden. In dem Moment habe ich einfach intuitiv und spontan diese mittlerweile kultige Handbewegung der Kanzlerin gemacht. Grundsätzlich habe ich nichts gegen die Interpretation des Bildes als Kritik an den Erwartungen der Gesellschaft an das Erscheinungsbild von Politikern. Joschka Fischers Turnschuhe waren damals auch ein Statement, heute stört sich keiner mehr an solcher Fußbekleidung im Bundestag.
Sie ließen sich im Vergleich zu den biederen Anzügen der Kanzlerin im Fetisch-Stil abbilden. Welche Reaktionen haben Sie erhalten? Ministerin Dorothee Bär etwa erntete für ihr pinkes Latexkleid bei einer Preisverleihung vor allem Kritik und Häme.
Auch Angela Merkel hat es einmal versucht, mit den weiblichen Reizen auf einem Plakat zu spielen. Das ist ziemlich nach hinten losgegangen. Vielleicht geschah es, weil es eben nicht authentisch, sondern nur provokant war. Bei Frau Bär war das Problem vermutlich nicht das Kleid, sondern eher die Begleitung (von Andreas Scheuer), da sieht jeder albern aus. Nein, im Ernst, nicht alle Kritiken und Kommentare waren so verheerend, es gab auch Stimmen der Begeisterung. Außerdem sollte das Outfit dem Anlass entsprechen. Es war nun mal nicht die MET Gala. Zum Kinderkrebs Charity Event in Lingerie zu erscheinen, wäre ja auch nicht angebracht.
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Laut Plakatunterschrift ist Zeit für eine „Raute 2.0“, also für einen Neustart. Was bringen Sie in den Stadtrat, das etablierte Politiker und Politikerinnen nicht haben?
In deutscher Politik und in der Gesellschaft ist dringend ein kompletter Neustart gefordert. Viele Bürger fühlen sich von keiner Partei mehr vertreten und ernst genommen. Allerdings werde ich da nicht viel ändern können in einem Stadtrat mit einem Sitz. Doch „die Partei“ möchte nicht Politik zerstören oder lächerlich machen, wie viele uns unterstellen. Das kann die Politik schon alleine hervorragend. Wir wollen natürlich provozieren, aber dadurch auch die Menschen zum Nachdenken anregen. Wenn dadurch die Verdrossenheit bekämpft wird, dann haben wir damit schon etwas erreicht. Ich selber möchte versuchen, wo es möglich ist, mit Ehrlichkeit und Offenheit etwas zu bewirken.
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Wo sind Sie privat aber auch politisch viel bürgerlicher, als regelmäßig von Ihnen erwartet wird?
Ich würde behaupten, dass ich prinzipiell ziemlich bürgerlich bin mit einem Mann und eigenem Heim, damit bin ich in der Szene übrigens nicht alleine. Und auch politisch erwartet keiner von mir andauernde Satire.
Vor der Wahl wurde über Sexismus in der Kommunalpolitik und über Belästigungen berichtet. Welche Erfahrungen haben Sie als Kandidatin gemacht – gerade, weil Ihre Arbeit als Domina der Öffentlichkeit bekannt war?
Tatsächlich habe ich persönlich damit überhaupt keine Erfahrungen gemacht. Im Rahmen der Sammlung von Unterstützer-Unterschriften gab es zwar einige Kontakte, aber dort sind wir sehr neutral aufgetreten. Ansonsten blieben solche Erfahrungen, vermutlich bedingt durch den Corona-Wahlkampf-Light, aus.
Werden Sie Ihre Tätigkeit als Domina neben Ihrem Sitz im Rat weiter ausüben?
So ist es jedenfalls meinerseits geplant. Was die Zukunft bringt, weiß keiner. Auch andere Ratskollegen werden wahrscheinlich ihre aktuellen Jobs nicht aufgeben und ich habe diese Tätigkeit bisher auch nur an einigen Tagen ausgeübt und nicht annähernd in Vollzeit. Ich mache es auch nicht rein aus der Notwendigkeit des Broterwerbs heraus, da mein Mann gut verdient für uns beide. Aber es ist ein wichtiger Teil meines Lebens, auf den ich nicht verzichten möchte.
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Welche Vorurteile über Ihren Beruf als Domina begegnen Ihnen regelmäßig?
In der BDSM- und Fetisch-Szene selbst gibt es zwar auch einige Vorurteile, aber in wesentlich geringerem Ausmaß als in der so genannten spießigen bürgerlichen Gesellschaft. Viele wissen schlichtweg nicht genau, was eine Domina so macht. Die Aufklärung findet zum größten Teil im Privatfernsehen statt, was natürlich nicht unvoreingenommen und unaufgeregt, sondern mit Vorliebe, die Dinge reißerisch darzustellen, geschieht. Eine Domina zu sein heißt, mal die Therapeutin, mal die Krankenschwester, aber in jedem Fall eine Vertrauensperson zu sein. Die intimsten Fantasien und Wünsche werden von ganz verschiedenen Individuen an mich herangetragen. Ich gehe immer mit Toleranz, Respekt und Verständnis damit um. Und während der Session trage ich auch die Verantwortung für meine Kunden, muss immer versuchen, mit Empathie ihre Grenzen richtig einzuschätzen und im Rahmen dessen zu handeln.
Wie stehen Sie zu den Corona-Beschränkungen für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter?
Die Maßnahmen der Landesregierungen war eine Fortsetzung der negativen Stigmatisierung und Diskriminierung eines Berufsstandes. Mit dem Prostitutionsschutzgesetz wurden gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen, die viele Sexarbeiter:innen auch einhalten, aber im Gegenzug hierfür ist keinerlei Schutz und Verbesserung der Situation durch die Politik erfolgt. Ich kann für mich und die mir bekannten anderen Damen sagen, dass seit jeher Hygiene und Kundenschutz erste Priorität haben. In welcher Arztpraxis wird der gesamte Raum nach der Nutzung gereinigt? Was sollen denn Sexarbeiter:innen machen, die keine Betriebsausgaben haben außer den Raummieten und von der Coronahilfe wenig bis nichts zur Bestreitung Ihrer privaten Miete und des regulären Lebensunterhalts verwenden dürfen? Sie werden in Privatwohnungen, Hotels oder illegal betriebene Bordelle getrieben und sind dort Forderungen nach Geschlechtsverkehr ohne Kondom oder anderen Dingen schutzlos ausgeliefert.
Wollen Sie sich hier politisch engagieren?
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Wenn möglich, werde ich mich definitiv dafür einsetzen, dass Legislative, Exekutive und Judikative endlich ihre heuchlerische Scheinheiligkeit fallen lassen. Es gibt ausreichend Gesetze, um Zwangsprostitution und Menschenhandel zu bekämpfen, stattdessen wird bei der organisierten Kriminalität das Auge zu gemacht und mit dem Finger lieber auf die legale Prostitution gezeigt. Es ist auch immer noch bedauerlich und traurig, dass Menschen wie Herr Lauterbach, Frau Schwarzer, Frau Breymaier und Herr Gröhe immer noch nicht akzeptieren können, dass es Frauen gibt, denen dieser selbst gewählte Beruf Spaß macht. Gleichzeitig haben diese Politiker und ihre Parteien über Jahre keinerlei Probleme mit einer sklavenähnlichen Haltung von Gastarbeitern in der Erntebranche, der Fleischindustrie und der Ausbeutung der Fahrer bei großen Lieferkonzernen – aber wenn Frauen freiwillig Ihren Körper verkaufen, dann ist eindeutig die Grenze überschritten, was erlauben die sich!
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Sie sagten in einem Interview, dass Ihre Tätigkeit als Domina Ihnen politisch schaden könnte. Warum haben Sie sich dennoch dazu entschieden, sich als Vivian Vaine auf den Wahlplakaten zu zeigen?
Das Problem ist doch, wenn man so etwas verschweigt und zu verbergen versucht, wird es trotzdem publik. Dann aber glauben die Menschen, dass es einen unappetitlichen Grund gibt. Da ich mich dafür nicht schäme und es keinen Anlass gibt, warum dem so sein sollte, möchte ich offen und ehrlich damit umgehen. Wenn man für etwas wie den toleranten Umgang mit diesem Thema einstehen möchte, dann muss man am Ende auch mit daraus resultierenden Konsequenzen leben.
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Angetreten sind Sie unter Ihrem bürgerlichen Namen Yulia Vershinina. Wer wird denn im Ratssaal Politik machen – Frau Vershinina oder Frau Vaine?
Es gibt keine klare Grenze zwischen diesen zwei Seiten meiner Person. Es ist ja nicht so, dass ich eine gespaltene Persönlichkeit hätte, wo abwechselnd Dr. Jekyll oder Mr. Hyde zum Vorschein treten würden – je nach Aufgabe. Ich bin immer beides. Wenn ich mich danach fühle, würde ich in Fetischkleidung in die Öffentlichkeit treten, auch in den Ratssaal. Aber nicht, um zu provozieren. Für mich ist das eben keine Verkleidung.
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