Münster. In der Pandemie ist Rücksicht auf Risikogruppen gefragt. Doch wie steht es um die junge Generation, die unter dem Klimawandel leidet?
Schulschließungen, geschlossene Firmen, Kurzarbeit, Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht -- in der Coronakrise folgte die Bevölkerung weitgehend konsequent den strikten Maßgaben der Politik. Doch offenbar gelten bei anderen Krisen nicht die gleichen Maßstäbe. So werde zum Beispiel verdrängt, dass die Luftverschmutzung jährlich Tausende Tote fordert, sagt der Rechtswissenschaftler Prof. Nils Jansen, Sprecher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Uni Münster.
Junge Menschen mussten in der Krise Rücksicht auf Risikogruppen nehmen, doch wie steht es um die junge Generation, die unter dem Klimawandel leiden wird? „In der Pandemie brauchen wir Antworten auf normative Grundfragen, etwa wie viel Rücksicht wir einander schulden“, so Jansen. Christopher Onkelbach fragte ihn, welche Lehren aus der Coronakrise zu ziehen sind.
Prof. Jansen, Vertrauen wir in der Krise zu sehr in die Autorität von Politik und Wissenschaft?
Jansen: Wissenschaftliche Expertise ist unabdingbar, um Krisen wie diese zu bewältigen. Was aber nicht fehlen darf ist, dass sich jeder bewusst wird, welche Entscheidungen getroffen werden. Eine gesellschaftliche Diskussion darüber, wer in der Krise wem Rücksicht schuldet, haben wir aber bislang vermieden.
Wie meinen Sie das?
Es wird immer gesagt, dass in der Krise die Kosten im Gesundheitswesen keine Rolle spielen dürfen. Sie spielen aber natürlich doch eine Rolle, wenn etwa eine Therapie enorm teuer ist und deshalb grundsätzlich nicht angewendet wird oder Intensivpflegeplätze fehlen. In der Umweltdiskussion wird die Debatte, welche Rücksicht unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen aufeinander nehmen sollten, ebenfalls zumeist vermieden. Aber auch hier geht es um Kosten, um Leben und Tod.
Die Politik diskutiert doch seit Jahren über die Folgen des Klimawandels…
Nach der Weltgesundheitsorganisation, um nur ein konkretes Beispiel zu nennen, waren 2016 rund 550.000 Todesfälle in Europa auf Auswirkungen von Luftverschmutzung zurückzuführen. Warum reagieren wir auf solche Zahlen ganz anders als bei Corona? Offenbar gilt hier die Logik der Ökonomie und der Gewöhnung. Sonst wären Fahrverbote ebenso selbstverständlich wie infektionsvorbeugende Kontaktverbote. Dass wir hier anders werten, ist nur möglich, weil wir uns solche Zusammenhänge nicht bewusst machen wollen.
Sollte die Politik in der Umweltpolitik ebenso strenge Maßstäbe anlegen wie in der Coronakrise?
Bundestagspräsident Schäuble hat gesagt: Nicht alles muss vor dem Schutz des Lebens zurücktreten. Das ist richtig. Absoluten Schutz genießt nach dem Grundgesetz nur die Menschenwürde. Man muss abwägen zwischen Gesundheit, Wirtschaft, Umwelt, Bildung. Wenn wir in der Coronakrise ausschließlich auf mögliche Krankheitsopfer schauen, kann ein wirtschaftlicher Niedergang die Folge sein, am Ende bedeutet das Arbeitslosigkeit und Armut – und es fehlt Geld für unser Gesundheitssystem. Das kostet auf Dauer ebenfalls Menschenleben.
Sollten die Maßnahmen also gelockert werden?
Darauf möchte ich keine Antwort geben. Aber wir muten derzeit vielen Menschen sehr viel zu mit Blick auf die Risikogruppen, also vor allem die ältere Generation. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren oder sind in Kurzarbeit, Schüler erleben derzeit eine Isolation. Das müssen wir uns bewusst machen. Es gibt Interessengegensätze zwischen der älteren und der jüngeren Generation.
Nehmen wir zu viel Rücksicht auf Risikogruppen?
Ja, wir schulden diese Rücksicht auch anderen Gruppen in gleichem Maße. In der Coronakrise nehmen wir auf Ältere Rücksicht. Nehmen wir ebenso viel Rücksicht auf die junge Generation in der Klimakrise? Wie viel Geld wollen wir in Bildung investieren, wie viel in den Umweltschutz, wie viel in soziale Absicherung? Darüber müssen wir reden.
Sehen Sie einen Generationenkonflikt bei der Verteilung von Ressourcen?
Es geht nicht einfach um einen Konflikt zwischen Alt und Jung. Es geht um Verteilungsfragen, die man fair und gerecht entscheiden muss. Die Coronakrise kann dazu führen, solche Fragen grundsätzlicher unter dem Blickwinkel der Fairness und der gerechten Verteilung zu betrachten.
Warum gelten in der Coronakrise offenbar andere Maßstäbe als bei Fragen des Klimawandels?
Unsere Vorstellung von Verantwortlichkeit und Kausalität spielt dabei eine zentrale Rolle. Bei der Pandemie ist es wichtig, die Infektionskette zu durchbrechen. Wenn ich unverantwortlich handle, können andere sterben. Diese unmittelbare Verantwortlichkeit sehen wir beim Klimawandel nicht in gleicher Weise. Es herrscht die Ansicht, dass das eigene Verhalten nichts zu einer Verbesserung beiträgt, im globalen Maßstab noch nicht einmal Deutschlands Klimapolitik. Das erklärt sehr gut, warum wir so unterschiedlich handeln. Die Jugend allerdings und die Bewegung Fridays for Future sehen die Kausalität deutlicher. Sie sehen sich als mögliches Opfer der Erderwärmung, dagegen die ältere Generation als mögliches Opfer von Corona.
Schlägt jetzt die Stunde der Wissenschaft?
Wenn das bedeuten sollte, politische Entscheidungen auf Experten zu delegieren, bin ich skeptisch. Jeder Wissenschaftler hat immer sein insuläres Expertenwissen. Virologen wissen sehr viel über Infektionskrankheiten, aber wenig über die psychischen Folgen der Quaratäne oder die Auswirkungen auf die Wirtschaft. Es wäre daher falsch, Entscheidungen auf die Experten zu verlagern.
Aber die Experten sollten eingebunden werden?
Ja, unbedingt. Es ist wichtig, dass Expertenwissen den Weg in die Politik findet und ernst genommen wird. Gesellschaftliche Debatten dürfen sich nicht über den Stand der Erkenntnis hinwegsetzen.
Warum kommen populistisch regierte Länder – USA, Russland, Brasilien – deutlich schlechter durch die Krise?
Die Haltung gegenüber der Wissenschaft hat auch etwas mit dem Bildungsniveau zu tun. Es liegt auf der Hand, dass Experten schneller Gehör finden in Gesellschaften, die der Wissenschaft vertrauen. Man muss deshalb fragen, warum manche Gesellschaften sich von Populisten regieren lassen während andere nicht so anfällig sind.
>>>> Zur Person:
Der Jurist und Rechtshistoriker Nils Jansen (53) lehrt Römisches Recht und Privatrecht an der Uni Münster. Als Sprecher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ untersucht er unter anderem das Verhältnis von Recht und Gesellschaft.
In dem bundesweit größten Exzellenzcluster seiner Art befassen sich insgesamt 140 Wissenschaftler aus 20 Fächern und zehn Nationen unter anderem mit Fragen, wie Religion zum Motor des politischen und gesellschaftlichen Wandels wird.
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