Duisburg/Bochum. Die Missbrauchsfälle von Lügde, Münster und Bergisch Gladbach verängstigen die Familien. Wie man Mädchen und Jungen vor sexueller Gewalt schützt.
Tante Gisela freut sich, dass sie ihre Nichte Ella mal wiedersieht, und gibt ihr zur Begrüßung einen dicken Schmatzer auf die Wange. Ella wischt die Spucke ab, die sich eklig-klebrig auf ihrer Haut anfühlt. Später vertraut sich das Mädchen ihren Eltern an: „Ich will keinen Kuss mehr von Tante Gisela!“ Mama und Papa sind amüsiert, ja, die Tante gibt wirklich feuchte Küsse. „Aber Ella, sie mag dich doch so sehr!“
Das stimmt wahrscheinlich auch, dass Tante Gisela nur das Beste für ihre Nichte möchte. Trotzdem: „Prävention fängt im Alltag an“, sagt Lydia Arndt vom Verein Wildwasser, einer Fachberatungsstelle zu sexueller Gewalt. „Kinder sollten lernen: Ich kann an einigen Stellen Nein sagen und es wird gewürdigt und es hat Wirkung.“ Das könne anstrengend für Eltern sein, wenn sie wie in diesem Fall der doch eigentlich so freundlichen Tante Gisela erklären müssen, dass Ella keine Küsse mehr von ihr haben möchte. „Aber es ist zwingend notwendig“, betont die Diplom-Pädagogin und Traumafachberaterin. Denn Kinder, denen man beibringt, wie sie Grenzen setzen, schützt man zugleich davor, leicht Opfer sexueller Gewalt zu werden.
Die vielen Missbrauchsfälle, die in der letzten Zeit bekannt geworden sind, in Lügde, Münster und Bergisch Gladbach mit 30.000 Spuren sind ein Schock für Eltern. Wie sollen sie ihre Kinder schützen? Können sie verhindern, dass sie jemals Opfer von sexueller Gewalt werden? „Man kann nie nie sagen“, so Lydia Arndt. „Aber es ist vorteilhaft, wenn Kinder eine gute Bindung an die Eltern haben, wenn sie selbstbewusst sind, eigensinnig, also wenn sie sagen dürfen: Das will ich, das will ich nicht.“ Zum Beispiel wenn ein Kind Scham entwickelt und dann Mama oder Papa bittet: „Ich möchte nicht mehr von dir geduscht werden.“ Das sei eine deutliche Grenzsetzung, die man achten sollte, damit das Kind erlebt: Mein Körper gehört mir!
Eltern sind Vorbilder - gute wie schlechte
Zudem sollten Eltern mit gutem Beispiel vorangehen: Denn eine Mama, die sich schlagen lässt, ist ein schlechtes Vorbild. Ein Vater, der sich anbrüllen lässt, ist ein schlechtes Vorbild. Wenn jedoch auch Erwachsene vorleben: Stopp, bis hier und nicht weiter. Es gibt Grenzen! Und sich auch mal Hilfe holen, wenn sie nicht weiter wissen. Dann lernt auch ein Kind anhand dieses guten Vorbilds: Ich muss mir nicht alles gefallen lassen – und ich darf um Hilfe bitten.
Selbstbewusst wird ein Kind, wenn man seine Stärken betont, wenn es Fehler machen darf. „Suchen Sie bei Konflikten nicht nach Schuldigen, sondern nach Lösungen“, rät die 59-Jährige. Jungen und Mädchen sollten das Gefühl haben, dass sie alles erzählen dürfen, ergänzt Monika Bormann, Leiterin der Bochumer Caritas-Beratungsstelle „Neue Wege“ gegen Missbrauch von Kindern. Ein Beispiel: Einem Jungen fällt eine Vase herunter. Statt die Scherben zu verstecken, beichtet er das Missgeschick den Eltern. „Wenn das Kind dann bestraft wird, wird es fürs Erzählen bestraft“, so die Psychologin und Psychotherapeutin. Ein Kind, das aber gelernt hat, dass es dann nicht ausgeschimpft wird, kann auch geheime Dinge erzählen und fühlt sich nicht schuldig. Das sei wichtig, so die 65-Jährige. Denn: „Sexueller Missbrauch ist immer ein Geheimnis.“
Ein Täter setzt ein Kind unter Druck
Ein Täter setzt ein Kind unter Druck, dass es bloß schweigt, erklärt Lydia Arndt: „Wenn du das erzählst, fliegt die ganze Familie auseinander. Wenn du das erzählst, muss ich ins Gefängnis, kommst du ins Heim, dann stirbt der Hund.“ Wenn jedoch ein Kind gelernt hat, dass es alles erzählen darf, ohne dass ihm etwas Schlimmes droht, wird es auch dann eher Hilfe suchen.
Das Thema Sexualität sollte in der Familie kein Tabu sein, so Lydia Arndt. Ebenso, dass es sexuelle Gewalt gibt. Kindern könne man das je nach Entwicklung etwa ab dem Grundschulalter erklären. Nicht früher, „weil es sonst zu viel Angst macht“. Aber bereits Kinder in der Kita können verstehen, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt. „Gutes Geheimnis heißt: Mama hat Geburtstag, ich habe etwas vorbereitet. Schlechtes Geheimnis bedeutet: Da darf ich etwas nicht erzählen. Ich kriege aber Bauchschmerzen, wenn ich es mit mir herumtrage.“ Solch ein schlechtes Geheimnis darf man erzählen.
Kinder müssen lernen, ihre Gefühle zu spüren
Auch sei es wichtig, dass Kinder ihre Gefühle spüren, so Monika Bormann. „Es ist nicht angeboren, Gefühle zu differenzieren.“ Was fühlt sich gut an? Was schlecht? „Und dass sie dann lernen, zu Dingen, die sich blöd anfühlen, auch Nein sagen zu dürfen.“
Das Internet, die sozialen Medien und das Smartphone ermöglichen es Tätern, Kontakt zu jungen Menschen aufzunehmen. Eltern sollten Jugendlichen daher erklären, dass ein Mensch sich online als 14-jährig ausgeben kann und in Wirklichkeit aber 40 ist. Auch das sei eine Form von Prävention, wenn Eltern Strategien der Täter kennen, so Lydia Arndt. Und dass sie wissen, dass man es einem Menschen nicht ansieht, ob er zu sexueller Gewalt fähig ist. Im Gegenteil: „Das sind sehr zugewandte Menschen.“
Meistens kennt man den Täter
Drei von vier Tätern kommen aus der Familie oder dem Freundes- und Bekanntenkreis, so Lydia Arndt. „Die sind oft näher als gedacht.“ 80 bis 90 Prozent der Täter seien Männer. Häufig würden sie sich Kindern zuwenden, die zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. „Sie bieten erstmal ihre Unterstützung an: Ich helfe dir, ich gehe mit dir dahin, Mama und Papa haben grad keine Zeit.“ So würden sie eine Beziehung aufbauen. Und erst später mit Berührungen anfangen. So dass Menschen sich wundern, wenn ein Täter überführt wird: „Das kann doch nicht sein, der war doch immer so nett.“
>> Anzeichen erkennen, Verdachtsfall von sexuellen Missbrauch benennen
Ein Kind braucht bis zu acht Anläufe, bevor ein Erwachsener ihm glaubt, dass es sexuell missbraucht wurde, so Experten. Daher sei es wichtig, dass man Kindern aufmerksam zuhört, Verhaltensveränderungen bemerkt. Die Hinweise seien oft subtil, betont Lydia Arndt von Wildwasser in Duisburg. Wenn ein Kind sagt: „Ich gehe nicht gern zu Onkel Theo“, dann könne der Grund dafür harmlos sein – oder aber auch sexuelle Gewalt. Wichtig sei, nicht darüber hinwegzugehen, sondern das Gespräch zu suchen. „Glauben Sie Ihrem Kind, auch wenn es Unglaubliches erzählt.“ Manche Erwachsene würden angesichts solch einer Tat erstarren – aber es gibt Hilfe:
In Duisburg gibt es vier Diagnostikstellen, bei denen man sich bei einer Vermutung, und sei es nur ein komisches Bauchgefühl, beraten lassen kann, ohne dass es gleich zur Anzeige kommt, u.a. bei Wildwasser (wildwasser-duisburg.de). Anonyme Online- oder Telefonberatung für junge Menschen: 0203-343 016.
In Bochum hilft Neue Wege (neuewege-caritas-bochum.de)
In Oberhausen hilft Pro Familia, in der Stadt gibt es derzeit besonders viele Missbrauchsfälle.
Weitere hilfreiche Infoseiten: innocenceindanger.de; trau-dich.de; zartbitter.de;
Suche für weitere Angebote vor Ort: hilfeportal-missbrauch.de
Weitere Hilfsangebote für junge Menschen zeigt eine Liste: hier.
Lokale Angebote finanzieren sich teils durch Spenden, die in Corona-Zeiten rückläufig sind. Die Arbeit sei daher gefährdet, so der Kinderschutzbund Essen.
Und so lernen Kinder den richtigen Umgang mit dem Internet.