Essen. Viele Menschen geben mehr als sie nehmen und stoßen so finanziell oder nervlich an ihre Grenzen. Ein Expertengespräch übers gekonnte Nein-Sagen.
Das kann man doch nicht machen. Da stoße ich dem anderen mit vor den Kopf. Der ist doch völlig hilflos... Es gibt viele Gründe, nicht Nein zu sagen, obwohl man eigentlich genau das möchte. „Ich mach da nicht mehr mit – Wie du dich endlich abgrenzt und auch mal die anderen leiden lässt“, heißt das neue Buch von Attila Albert. Ein Gespräch mit dem 47-jährigen Coach und Autor, der mit der anerzogenen Vorstellung aufräumt, dass man erst dann Wünsche äußern darf, wenn alle anderen nichts mehr wollen.
Wann haben Sie zuletzt Nein gesagt?
Heute Morgen zu mir selber. Ich wollte mich eigentlich direkt wieder an den Schreibtisch setzen und habe dann erstmal Sport gemacht. Ansonsten habe ich in meinem Leben sehr oft Nein gesagt, zu Beziehungen, zu Freundschaften, um frei zu sein für etwas anderes, was mir besser und sinnvoller erschien.
Halten die Menschen Sie denn heute für egoistisch, wenn Sie konsequent Nein sagen?
Egoismus heißt ja: Ich denke nur an mich selbst. Ich plädiere dagegen für eine ausgeglichene Bilanz zwischen Geben und Nehmen. Mein Eindruck ist nach neun Jahren Coaching, die meisten Menschen belasten sich eher, geben eher zu viel. Weil sie denken, das muss so sein, aus Höflichkeit, auch aus Angst vor dem Konflikt. Aber Menschen, die rein egoistisch sind, die nur an sich denken, halte ich für eine absolute Minderheit.
Die meisten geben also mehr als sie nehmen – dann ist doch für alle gut gesorgt?
Beim Helfen sollten immer zwei Kriterien erfüllt sein, dass man es freiwillig macht und innerhalb seiner Ressourcen. Das Problem ist, wenn ich etwas tue, was ich gar nicht möchte, weil ich mich dazu gedrängt fühle oder moralisch erpresst werde. Oder wenn ich dauerhaft mehr gebe als ich kann, wenn ich kräftemäßig, finanziell oder nervlich erschöpfe. Das ist natürlich nie ganz ausgeglichen. Es ist absolut normal, wenn ich ein Kind bekommen habe, dass ich dann viel mehr geben muss als ich zurückbekomme. Wenn ich mich in einer Ausnahmesituation befinde, wenn ich einen kranken Angehörigen pflegen muss. Das sind Situationen, wo ich erstmal etwas gebe. Ich muss trotzdem mittelfristig darauf achten, dass ich etwas zurückbekomme, mal ausschlafe, mir Hilfe hole. Ich muss etwas für meine Ressourcen tun, sonst brenne ich aus.
Wie entwickelt man ein Gespür dafür, wann es genug ist?
Man kann natürlich auf sein Gefühl hören. Habe ich den Eindruck, dass ich meiner Freundin ständig zuhöre beim Liebeskummer, sie selber aber nie Zeit für mich hat? Es hilft, solch einen Eindruck mit Zahlen zu untermauern. Ein Beispiel: Wenn ein Ehepartner den Eindruck hat, er macht viel mehr als der andere, dann ist es oft ein großer Augenöffner, in einer Excel-Liste eine Woche lang aufzuschreiben, wer was gemacht hat. Und dann stellt man fest: Ups, da ist wirklich ein Ungleichgewicht. Also erst ist da das Gefühl, aber dann sollte man es am besten prüfen.
Es gibt Menschen, die übernehmen unliebsame Aufgaben, ohne sich zu beschweren. Aber wenn man nichts sagt, dann wirkt das Verhalten doch wie ein stilles Ja.
Absolut. Man kann sich nicht damit rausreden, dass der andere es hätte erahnen sollen. Das wäre sehr schön. Aber es ist wichtig, es auszudrücken, was man möchte. Es gab ja vor einigen Jahren die Mode mit den Ich-Botschaften: Ich fühle mich überlastet, ich bin traurig. Das ist zu wenig! Ein Appell nur ans Mitgefühl reicht nicht. Wenn man an jemanden gerät, der das bewusst ignoriert oder ausnutzt, ist das völlig sinnlos. Ich muss ausdrücken, wie es mir geht, aber ich muss auch Forderungen formulieren: Ich erwarte, dass das so und so geht. Oder wenn, dann mache ich das nur unter der und der Bedingung. Wenn ich etwas stillschweigend mitmache, gebe ich meine Zustimmung.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Verwandter hat Geldprobleme und ich helfe ihm mal. Aber das nimmt dann kein Ende. Er hat immer ein Geldproblem, heute ist es das, morgen jenes. Da haben die Leute Hemmungen zu sagen, hier ist meine Grenze. Weil sie diesen Menschen ja mögen, vielleicht ist es ein Bruder oder der Ehepartner. Da sage ich, man kann so etwas immer umdefinieren. Nur weil etwas lange so gelaufen ist, muss es nicht so fortgesetzt werden. Ich kann das Gespräch suchen: Wir haben das bisher so gemacht, aber das funktioniert für mich nicht mehr.
Und dann wird das Gespräch vor sich hergeschoben...
Im Buch nenne ich sieben verschiedene Strategien, wie ich mich abgrenze. Passiver Widerstand, indem ich es aushalte, ich kann mich rumstreiten und ärgern, ich kann mich in Alltagsfluchten flüchten, indem ich den Konflikten ausweiche und lieber vom nächsten Urlaub träume. Es gibt viele Möglichkeiten, sich abzugrenzen. Was gut ist, zu überdenken, wie mache ich es normalerweise und wie mache ich es alternativ. Wenn ich feststelle, ich streite mich pausenlos mit anderen Leuten, dann ist das eine Möglichkeit von mehreren, aber eine nicht sehr gute. Ich verbrenne mir quasi ständig die Zunge, ich ärgere mich und andere, das ist nicht so ideal.
Dann sieht man einen hilflosen Menschen, den man sehr mag – und möchte ihm alles abnehmen, damit es ihm wieder besser geht...
Der andere muss durch das Problem durch, das ist unangenehm und schmerzhaft, aber nur dann wird man klüger. Wenn ich das immer verhindern möchte, aus guten Motiven heraus, dem soll es nicht schlecht gehen, dann verhindere ich dessen Entwicklung. Das fällt am Ende auf mich zurück, weil ich pausenlos mit den Problemen konfrontiert bin. Ich muss dem anderen helfen, selbstständiger zu werden. Das gilt für Kinder wie für ältere Personen. Ein Beispiel: Ein Single-Elternteil, das mich ständig anruft, weil es einsam ist. Das kann ich als erwachsenes Kind nur begrenzt auffangen, ich muss irgendwann klar machen, es wird Zeit, sich Freunde zu suchen oder eine neue Beziehung einzugehen. Ich werde zum Mentor und nicht zum Dauerhelfer.
Menschen, die helfen, haben ja auch einen Nutzen davon, sie fühlen sich zum Beispiel unersetzlich.
Wenn man Leute fragt, warum sie ständig so viel für andere machen, dann kommen häufig Erklärungen wie: Ich bin eben zu nett, das gehört sich so, so bin ich erzogen worden. Das sind oberflächliche Erklärungen. Leute führen Beziehungen, weil sie irgendetwas daraus ziehen. Selbst die schlechteste Beziehung bringt mir irgendwas, sonst würde ich nicht dabei bleiben. Das sind Punkte wie: Ich habe ein gewisses Machtgefühl, ich fühle mich wichtig, wenn mich jemand etwas fragt. Ich bekomme Anerkennung und Respekt: ,Du Ärmste, was du alles mitmachst, das ist unglaublich.’ Diese Bestätigung kann man sich auch anders holen, zum Beispiel bei einem Ehrenamt, wo das Helfen erwünscht ist.
Statt immer Nein zu sagen: Ist es nicht genauso wichtig, auch mal beherzt Ja zu sagen?
Ich beobachte oft, dass Leute grundlegende Dinge nicht ansprechen, aus Angst oder aus dem Missverständnis heraus: Das ist ja sowieso klar. Gerade in der Corona-Zeit wurde deutlich, dass viele Ehepaare nie über Verantwortungsverteilung gesprochen haben. Es geht ja schon beim Dating los, da wird nicht gefragt: Willst du heiraten, willst du Kinder? Und dann stellt man erst im Laufe der Beziehung fest: Wir liegen ja völlig auseinander. Wenn zum Beispiel eine Frau eine Familie gründen möchte, kann sie nicht Jahre mit einem Mann vertrödeln, der das gar nicht will. Oder beim Beruf, wenn ich einen Job ausübe, den ich nicht mag und der schlecht bezahlt ist. Nur wenn ich gehe, kann ich meine Zeit und Kraft auf etwas legen, was mir wichtig ist. Und wenn ich zu einem anderen Job Ja sage, ist das Nein zu dem alten Job logischerweise eingeschlossen.