Essen. Eltern sind verunsichert, ob Bildschirm-Medien schaden. Oder ob der frühe Umgang mit dem Tablet besonders gut auf die Zukunft vorbereitet.
Man muss nicht Karius und Baktus rufen, diese bösen Zahntrolle, um Kinder ans Putzen zu erinnern. Für die meisten Eltern ist es selbstverständlich, den Nachwuchs zu ermahnen: „Hast du dir auch die Zähne geputzt?“ Schon den Kleinsten ist klar: Zähneputzen ist wichtig, damit ich keine Karies bekomme. In diesem Punkt ist mit Mama und Papa nicht zu spaßen!
Anders sieht es beim Smartphone aus, beim Fernsehen, beim Computer – dazu gibt es oft keine Ansagen in den Familien. Weil sich Eltern darüber keine Gedanken machen, weil sie meinen, ihrem Kind damit etwas Gutes zu tun, oder sie verunsichert sind: Wie viel Zeit vor dem Bildschirm ist eigentlich gut für mein Kind?
Es gibt keine verbindlichen Regeln
„Es gibt keine verbindlichen Regeln für den Umgang mit diesen Medien“, sagt auch Wilfried Brüning. Eltern hätten oft eine starke innere Haltung, wenn es um Themen wie Zähneputzen und das Erlernen von Verkehrsregeln geht, so der Medienpädagoge aus Detmold: „Keine Mutter würde sagen: ,Lauf mal über die Straße, mein Schatz. Ich bin gespannt, was dann passiert.’“ Aber genau so würden sich oft Erwachsene bei Bildschirmmedien verhalten. Schon die Kleinsten dürften mit dem Smartphone spielen, ohne dass über die Folgen nachgedacht werde.
Dass der zu frühe Gebrauch dieser Medien Konsequenzen hat, bestätigt etwa die Studie „Blikk“. Mehrere Institute waren an der Forschung beteiligt. Befragt wurden Eltern, Kinderärzte und Jugendliche zwischen Juni 2016 und Januar 2017. So bekamen die Wissenschaftler Ergebnisse zu mehr als 5000 Kindern und Jugendlichen. Dabei wurden etwa Sprachentwicklungsstörungen festgestellt, wenn Kinder täglich auf den Bildschirm schauen. Sie wurden schnell unruhig und konnten sich schlecht konzentrieren. Auch die vor wenigen Tagen von der Kultusministerkonferenz veröffentlichte Studie, die Grundschülern in NRW eine Schwäche in Deutsch und in Mathematik bescheinigt, findet Brüning alarmierend. Er sieht auch hier einen Zusammenhang mit einem zu hohen Medienkonsum.
Das Computerspiel macht glücklich, bereitet aber nicht aufs Leben vor
Warum ist die Faszination so groß? „Das liegt am Dopamin“, so Brüning, dieser körpereigenen Droge, die berauscht und glücklich macht. „Wenn unsere Kinder vor einem Computerspiel sitzen, dann wirkt die Belohnung durch Dopamin wie ein starker Duschstrahl“, erklärt Brüning. „Wenn sie jedoch einen Ball in ein echtes Tor ballern, dann ist die Dopamin-Ausschüttung wie ein paar Wassertropfen.“ Aber nur während des richtigen Spiels werde das Kind aufs Leben vorbereitet.
„Der Mensch kommt mit einer unvorstellbaren Menge an Gehirnzellen auf die Welt“, so Brüning. Aber nur drei Prozent davon sind belegt: saugen, tasten, schreien. Doch die anderen 97 Prozent der Gehirnzellen warten noch auf ihre Aufgabe. „Die Neuronen müssen erst aufgeweckt werden.“ Und wie macht man das am besten? „Mit allen Sinnen.“
Wenn Kinder mit einem Stift malen, eine Bude bauen, Seilchen springen, würden sie spielerisch lernen. Und bei einer Wissenssendung etwa nicht? Das sei etwas anderes, betont Brüning. Er veranschaulicht es anhand einer Zitrone. Man könne sie am Bildschirm sehen. Vielleicht erklärt sie noch ein Sprecher. Aber riechen, schmecken, mit allen Sinnen wahrnehmen, können Kinder sie nur, wenn sie die Frucht in die Hand nehmen. Erst dadurch würden die Gehirnzellen richtig arbeiten. „Das Aufwecken der Neuronen muss in den ersten sechs Lebensjahren passieren. In dieser Zeit wird ein Fundament für die Wissensaufnahme gebildet.“
Einfache Regeln, die Kinder verstehen
Brüning nennt folgende Richtwerte: „Wir sagen, bis zum 6. Lebensjahr müssen 10 Minuten Fernsehen durch 40 Minuten reales Erleben ausgeglichen werden.“ Vom 6. bis zum 12. Lebensjahr seien bei 10 Minuten in der virtuellen Welt 30 Minuten in der realen Welt wichtig. Und vom 12. bis zum 18. Lebensjahr müssten 10 Minuten virtuelles Erleben durch 20 Minuten reales Erleben ausgeglichen sein. „Das sind Regeln, die von Eltern und Kindern verstanden und mitgetragen werden können.“ Wobei Brüning betont, dass das Medium Buch nicht zur virtuellen Welt gehöre, weil das Verstehen von Wörtern und die kreative Leistung dabei immens seien.
Ein Rest Unsicherheit bleibt: Eltern möchten schließlich nicht, dass ihr Kind abgehängt wird. Brüning erinnert an die High-Tech-Branche in Silicon Valley. Die IT-Genies schickten ihre Kinder nicht in hochtechnisierte Schulen. Viele entschieden sich bewusst für eine Waldorfschule. „Die wissen ganz genau, nur wer lebenstüchtig ist, kann auch später medientüchtig werden.“
Die Bildschirm-Medien nicht verteufeln
Brüning betont, dass er die Medien nicht verteufeln will. Wenn kleine Kinder Interesse an Technik zeigten, könnte man ihnen aber auch eine Kamera schenken, mit der sie kreativ Fotos und Filme machten. Brüning hält selbst nicht nur Vorträge zum Thema „Zwischen zwei Welten – Kinder im medialen Zeitalter“. Zusammen mit seiner Frau Astrid Brüning, Grafikerin aus Dortmund, hat er dazu einen Film gemacht, der etwa für Elternabende in Kitas und Grundschulen gedacht ist (69,90 €). Warum gerade einen Film, wenn doch das Buch das aus seiner Sicht bessere Medium wäre? „Wir schreiben auch gerade ein Kinderbuch dazu“, sagt Brüning. Aber mit dem Film könnte man in Beratungsstellen mehr Eltern erreichen.
Eltern whatsappen selbst so viel
Eltern sind die Vorbilder der Kinder. Was sie machen, ahmen die Kleinen nach. Doch viele Erwachsene gucken selbst stundenlang Fernsehen, spielen Runde um Runde mit der Wii und sind ständig mit dem Smartphone online. Verpufft da nicht die Forderung: „Du sollst nicht so viel auf dem Tablet spielen, das ist nicht gut für dich!“ Brüning sieht diese Gefahr. Denn: „Ich bin mir heute nicht mehr sicher, wer mehr whatsappt – die Eltern oder die Kinder?“
Die genannte Blikk-Studie zeigt, dass sogar schon Säuglinge Fütter- und Einschlafstörungen haben, wenn die Mutter während der Betreuung gleichzeitig digitale Medien nutzt. Daher sei es wichtig, dass die Menschen ein neues Bewusstsein für den Umgang mit Bildschirmmedien entwickeln, so Brüning. Ein Anfang könnte sein, dass man in der Wohnung zum Beispiel die Küche zur smartphone-freien Zone erklärt, in der auch Mama und Papa nicht auf ihr Handy schauen.
Leichter wird Erziehung dadurch nicht
Wenn Eltern die Regeln glaubwürdig einfordern: Leicht wird das Miteinander dadurch bestimmt nicht? Brüning, der selbst Vater von zwei mittlerweile erwachsenen Jungen ist, bestätigt das: „Beschimpfungen jeden Tag. ,Mama, du bist doof!’ ,Papa, ich hasse dich!’“, erinnert sich Brüning lachend. Aber kürzlich hätte der Älteste, der 21 Jahre ist, gesagt: „Danke, dass ihr den Stress mit mir ausgehalten habt.“ Brüning: „Das tut dann besonders gut, wenn man das von seinen Kindern hört.“