Essen. Die Italiener machen es vor: Trotz Corona singen sie am Fenster. Kann das in deutschen Gärten gelingen? Wir haben das Balkon-Singen ausprobiert.

„Der Mond ist aufgegangen“, fangen mein Partner und ich an zu singen – zu brummen beschreibt es besser. Meine letzte Chorprobe ist 30 Jahre her. Wir stehen auf unserem Balkon, schauen in den Himmel, der viel zu bewölkt ist, um die goldenen Sternlein prangen zu sehen. Und auch kein Nachbar steht am Fenster oder im Garten unseres Hinterhofs. Nur unser Mitbewohner Valentin, ein verwitweter Kaninchenmann, der die Loggia meist für sich alleine hat, schaut zu uns Balkon-Singern hinauf – und legt die Ohren an.

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Wie anders sind da die Bilder aus Italien: Nachbarn, die lachen, die singen, die musizieren, während die Corona-Krise sie zu Hause einsperrt. Die Videos aus dem besonders vom Virus betroffenen Land berühren mich sehr, sind sie seit Wochen doch ein Zeichen der Hoffnung, dass neben dem vielen Leid auch weiterhin Gutes geschieht. Aber kann das in Deutschland auch gelingen, dass Menschen auf ihren Balkonen gemeinsam singen und sich so Trost spenden?

Aufruf zum Mitsingen: Der Mond ist aufgegangen

Vor eineinhalb Wochen erreicht mich über die sozialen Netzwerke ein Aufruf der Evangelischen Kirche zum Balkon-Singen. Jeder kann mitmachen, jeden Abend um 19 Uhr. Damit sich die Menschen trotz der wichtigen „sozialen Distanz“ miteinander verbunden fühlen, stimmen sie das Lied von Matthias Claudius an: „Der Mond ist aufgegangen“.

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Ich frage meinen Christian – und er ist sofort dabei. Was mich etwas überrascht. Aber in diesen Zeiten ist das Unterhaltungsprogramm ja deutlich eingeschränkt. Also stehen wir um sieben auf dem Balkon, singen und sehen immer noch nichts.

Zumindest keinen singenden Nachbarn. Dafür einen Hinterhof, der sich gewandelt hat, seitdem die Kinder nicht mehr in Kita oder Schule gehen und die Eltern im Homeoffice arbeiten. Eine Familie hat ihre Stühle sonnengelb und Steine kunterbunt gestrichen, eine andere aus Zweigen ein Tipi gebaut.

Der weiße Neger Wumbaba - das berühmte Hör-Missverständnis

„Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget – der weiße Nebel wunderbar.“ – „Der weiße Neger Wumbaba“, schießt mir der Titel des Buches von Axel Hacke durch den Kopf. Er hat sich der Hör-Missverständnisse bei Liedern angenommen. Textsicher sind wir auch nicht. Wir spielen auf dem Smartphone ein Video ab, das nicht nur die Melodie, sondern wie bei Karaoke den Text vorgibt.

Unsere Stimmen erklingen am nächsten Abend wieder im Hof. Der Mann, der gegenüber am Fenster sitzt, blättert in der Zeitung und schaut nicht auf. Valentin hüpft um unsere Beine – ihn interessiert nur, ob es heute Kohlrabiblätter gibt. Immerhin hat keiner „RUHE“ geschrien.

Frauen im Beginenhof in Essen-Rüttenscheid treffen sich abends auf ihren Balkonen, um zusammen zu singen.
Frauen im Beginenhof in Essen-Rüttenscheid treffen sich abends auf ihren Balkonen, um zusammen zu singen. © FUNKE Foto Services | Dietmar Wäsche

Neuer Abend, neues Sing-Glück: Als wir den Balkon betreten, öffnet sich auch gegenüber eine Tür. Eine Nachbarin und ihr kleiner Sohn auf dem Arm lauschen. Ob sie bei dieser Entfernung überhaupt hören, was wir singen? Der Abstand zwischen den Häusern ist viel größer als auf den Videos aus Italien. Die Nachbarin und ihr Sohn schauen in Richtung Turm der nahen Kirche, in der es nun keine Gottesdienste mehr gibt. Sie hören die Glocken, die in Essen jeden Abend um 19 Uhr läuten.

„Wollst endlich sonder Grämen, aus dieser Welt uns nehmen, durch einen sanften Tod . . .“ Christian zieht die Augenbrauen hoch. Strophe sechs kennen wir nicht. Es geht zwar in diesen Tagen um Leben und Tod. Aber das Singen soll es doch leichter machen. Christian: „Da hätten sie sich ein fröhlicheres Lied aussuchen können.“

„Bochum, ich komm’ aus dir“, singen die Menschen in der Nachbarstadt das Grönemeyer-Lied in ihren Gärten, so kann ich es auf dem Internetportal unserer Zeitung lesen. Das Lied ist fröhlich. Aber für Essen taugt es nicht. Im Netz entdecken wir ein Mond-Video von Herbert Grönemeyer. Aber bei der Betonung mitzusingen, ist unmöglich: „Der - Mond ist - aufgegaaaaangen.“

Verdis Nabucco vom Balkon

In Bottrop und in Gladbeck singen die Menschen auf ihren Balkonen das Steigerlied. Im Beginenhof in Essen-Rüttenscheid treffen sich die Bewohnerinnen draußen zum Musizieren. Und auch für den Opernsänger Nicolai Karnolsky verwandelt sich sein Balkon in Bochum in eine Bühne – für eine Arie aus Verdis „Nabucco“.

Familientreffen: Das ist in diesen Tagen kein gemeinsames Kaffeetrinken, sondern eine Videokonferenz über Facetime. Obwohl meine Eltern und meine Schwester mit ihren Kindern zurzeit so wenig unternehmen, haben wir uns viel zu erzählen. Und als es sieben Uhr wird, nehme ich sie am Smartphone mit nach draußen: „Los, singt mit!“

Facetime und der Gesang übers Smartphone

„Wir kennen den Text nicht“, sagt meine Schwester. Dabei haben wir erst vor wenigen Monaten in der Menschenmenge auf dem Evangelischen Kirchentag in Dortmund genau dieses Mond-Lied gemeinsam gesungen. „Die Nachbarn lachen mich aus“, befürchtet meine Mutter und geht doch nach draußen.

Immerhin die erste Strophe singen wir zusammen. Dann wird es stumm am anderen Ende der Leitung – sagt man das heute noch in der digitalen Welt? „Ach, die Nachrichten kommen doch!“, ruft meine Mutter und verabschiedet sich schnell. Generation Risikogruppe lässt sich auch in diesen Zeiten ungern von Fernseh-Gewohnheiten abbringen.

Balkon-Singen: Redakteurin Maren Schürmann – die Freunde singen übers Handy mit.
Balkon-Singen: Redakteurin Maren Schürmann – die Freunde singen übers Handy mit. © Privat | Privat

Meine Schwester sagt: „Um 20 Uhr werden die Kerzen ins Fenster gestellt, um 21 Uhr geklatscht für die Ärzte und Pfleger.“ Ich: „War das nicht umgekehrt?“ Es werden immer mehr Aktionen, wobei sich die Pflegekräfte zu Recht mehr Lohn als Beifall wünschen. Das Mond-Lied endet: „Und lass uns ruhig schlafen. Und unsern kranken Nachbarn auch!“

Ich telefoniere so viel wie schon lange nicht mehr. Dabei ist die Freundin, die in Schweden lebt, genauso nah, wie die, die um die Ecke wohnt. Zumindest gefühlt. Wir können es nicht fassen: Die Grenzen zwischen Deutschland und Skandinavien sind dicht!

Eine andere Freundin meldet sich. Auch sie geht raus: „Ich singe alleine.“ Also verabreden wir uns zur Videokonferenz, zum gemeinsamen Singen. Auf einem Handy sehe ich das Gesicht meiner Freundin und nun auch das ihrer Tochter, meines Patenkinds. Auf dem anderen Handy singt Nena – wer schon alles den Mond angeheult hat…

So weit, aber auf dem Handy nah

Es ist ein schöner Moment, wir sind weit entfernt und fühlen uns doch verbunden. Am Ende möchte mir meine Patentochter ihre schöne Bastelarbeit zeigen – eine weitere Aktion, bei der jedes Kind, das nun zu Hause ist, einen selbstgebastelten Regenbogen ins Fenster hängt.

Und dann gibt es noch einen deutschlandweiten Aufruf an alle Musiker, auf den Balkonen die „Ode an die Freude“ zu spielen. Die Europahymne mit den Zeilen von Schiller und der Musik von Beethoven.

Wir singen mit: „Freude schöner Götterfunken“. Erstmals sind wir nicht allein im Hof. In der anderen Ecke, noch hinter der blühenden Magnolie, hören wir leise Instrumente und Stimmen: „Alle Menschen werden Brüder.“ Es ist wirklich ein Lied der Freude, der Zuversicht. Am Ende klatschen Nachbarn Beifall.

Und was macht der Mond? Er wird auch morgen wieder aufgehen…

Balkon-Singen: Jeder kann mitsingen

Die Evangelische Kirche lädt jeden Abend um 19 Uhr ein, „Der Mond ist aufgegangen“ auf dem Balkon oder im Garten zu singen oder zu musizieren. Mehr Info: ekd.de

Kirchenmusiker planen für Ostern einen „Auferstehungsflashmob“. Bläser, Sänger und Organisten sind eingeladen, am 12. April um 10 Uhr nach dem Glockenläuten das Osterlied „Christ ist erstanden“ erklingen zu lassen.