Essen. Auf dem Tourismus-Rekord kann sich das Ruhrgebiet nicht ausruhen – die Weiterempfehlungsquote stagniert. Die akute Aufgabe: Aufenthaltsqualität!
Was die Wenigsten wussten: Als die Tourismuszahlen für 2011 im Revier anstanden, also des Jahres nach der Kulturhauptstadt, wollte man sie erst in Bezug zu 2009 setzen. Denn sich mit dem Höhepunkt RUHR.2010 messen zu lassen, schien doch allzu vermessen – das zeigten auch Beispiele von vorherigen europäischen Titelträgern. Doch siehe da! Es kamen sogar mehr Gäste in die Region, die sich jetzt selbstbewusst Metropole nannte. Und seither, seit einer ganzen Dekade also, steigt die Kurve Jahr für Jahr an. Tourismus im ollen Kohlenpott, wer hätte den Strukturwandel durch Kultur tatsächlich für möglich gehalten: eine Erfolgsgeschichte.
Überraschungseffekt ist passé
Punkt. Womöglich allerdings: ein Scheitelpunkt? Denn der Aufschwung von niedrigem Niveau ist einfacher, als einen stattlichen Trend zu verteidigen oder gar weiter auszubauen. Anfangs hatte hier doch niemand etwas erwartet oder noch weniger, da konnte sich der Hochglanzprospekt-Touri noch vom rauen „Komm zur Ruhr“-Charme überraschen lassen. Dass die Reise vom Aschenpott’l zum Glücksgebiet nicht nur auf der Überholspur verläuft, das hat auch Axel Biermann (54) erkannt. Der Geschäftsführer von Ruhr Tourismus musste erstmals stagnierende Messwerte bei den Gästebefragungen registrieren. „Es hat sich ein gewisser Gewöhnungseffekt eingestellt, wo früher der Aha-Effekt war. Die Destination hat sich einen Namen gemacht, reiseerfahrene Menschen haben eine höhere Erwartungshaltung – die wollen was sehen!“
Aber wir haben doch noch die Industriekultur, unser Alleinstellungsmerkmal, oder? Biermann: „In Berlin gibt es das Zentrum für Industriekultur und das ist dort nur ein Angebot von vielen. Sachsen hatte für das Thema bei der Internationalen Tourismusmesse 2019 eine ganze Halle reserviert. In Sachsen-Anhalt ist Ferropolis, die Stadt aus Eisen, Ankerpunkt der Europäischen Route der Industriekultur. Wir können uns nichts davon kaufen, das Original zu sein.“
Also: Ausruhen is’ nich’. Weiterempfehlungsquote und Wiederbesuchsabsicht heißt das im Marktforschungssprech. Nennen wir es einfach Zufriedenheit – und die hat viele Feinde: Aufenthaltsqualität ist dabei der gefräßigste. Biermann: „Wir müssen uns jetzt mit etablierten Reisezielen vergleichen lassen und deshalb noch mehr Aufmerksamkeit darauf legen, unsere Standards zu pflegen und weiterzuentwickeln.“
Smarter Service mit Sprachfehler
Als Ansatz zur Selbsthilfe ausgemacht: Service, Service, Service! Per Smartphone etwa, die App „Ruhrkultur.jetzt“ vom Verbund der Ruhrkunstmuseen und Ruhrbühnen soll Ticketing, Hotels, Restaurants und Sehenswürdigkeiten per Fingerzeig bieten.
Pünktlich zum Frühjahr kommt außerdem der digitale Radtourplaner heraus: Wer eingibt, wo er hin möchte, was er dabei sehen und auf welchem Belag er fahren will, bekommt eine individuelle Route ausgespuckt. Wobei die Künstliche Intelligenz als Beifahrer ärgerliche Aussetzer aufweist. „Sprachassistenten wie Alexa kennen zum Beispiel die Öffnungszeiten des Gasometers, wissen jedoch nicht, dass er wegen Sanierung vorübergehend geschlossen ist...“
Auch die noch recht junge WelcomeCard Ruhr ermögliche einen großen Aktionsradius, der einen zwar nicht von Düsseldorf bis Dortmund bringt, aber immerhin keine unterschiedlichen Tarifzonen kennt. Biermann: „In Kombination mit RuhrTopcard-Leistungen bietet sie freie Fahrt und freien Eintritt. Da sind wir ganz weit vorne.“ Die Karte soll bald von Reiseveranstaltern wie Dertour angeboten werden, man arbeitet an technischen Lösungen. Der Bekanntheitsgrad sei aber ausbaufähig. „Das ist am Ende eine Frage des Budgets. Und das ist mit zehn Prozent für Marketing aus den Nachhaltigkeitsmitteln der Kulturhauptstadt (4,8 Mio Euro, Anm.d.Red.) einfach zu wenig.“
Image und Mobilität als Endgegner
Immerhin gibt es nun mit fast fünf Millionen eine Sonderausschüttung aus dem Wirtschaftsministerium für drei Projekte, mit denen man sich bei der Ruhrkonferenz beworben hat, u.a. für Digitalisierungsmodelle, aber auch zum Thema Ruhr Fußball.
Die Reisekasse wiederum kann in neue spannende Design-Unterkünfte fließen wie das Hotel Friends auf Zollverein oder das Prizeotel in Bochum. 6500 zusätzliche Zimmer seit 2010, das sind 13.000 Betten, da muss zumindest niemand draußen bleiben. Und doch bleiben zwei Endgegner: das unkaputtbare Iiih-Image und die katastrophale Verkehrssituation. Wenn es nach Biermann geht, um gleich beide Fliegen mit einer Antwort zu klatschen, heißt die Lösung Olympia. „Die Spiele sind das Schaufenster der Welt – und die Bewerbung ist unsere riesige Chance, das Thema Mobilität in den Griff zu bekommen.“ Dann klappt’s auch mit dem schlechten Ruf, der wie Pech zu kleben scheint?
„Grundsätzlich ist die Imagefrage eine Generationenaufgabe“, sagt Biermann. „Rankings wie zuletzt der Schuldneratlas, die das Revier zum Brennpunkt erklären, das sind halt immer wieder negative Meldungen in der nationalen Öffentlichkeit.“ Am effizientesten sei es, die Menschen, die hierher kommen, persönlich zu überzeugen, um Vorurteile aufzulösen. „Dazu gehören auch unsere 5,1 Millionen Mitarbeiter, die Ruhris, die wir erstmal vom Standort Heimat überzeugen müssen, damit sie das nach außen tragen.“
Extraschicht, die Nacht der Industriekultur mit Day of Song, und der nächste Tag der Trinkhallen 2022 stehen auf dem touristischen Terminkalender unter Standard; die Internationale Gartenausstellung 2027 unter Vorfreude, die indes noch lange währen muss. Anziehende Attraktionen sollen aber schon 2020 die internationale Smurf-Schau im Centro werden, die als erste Station in Deutschland ab März aus Oberhausen Schlumpfhausen macht; oder ebenda „The Void“: ein gigantischer Indoor-Abenteuerpark für Virtual-Reality-Landschaften.
Am „Platz der guten Hoffnung“ ist für kühne Pläne keine schlechte Adresse – die stirbt bekanntlich zuletzt. Nicht nur der Gasometer muss eine Besucher-Nullrunde einlegen; auch im Metronom-Theater fällt in wenigen Wochen der Vorhang. Kein Musical mehr in Oberhausen, wo es 2019 erstmals 500.000 Übernachtungen gab. Zehn Prozent können sie beim nächsten Saldo direkt wieder abziehen, wenn das Singspiel als Schlager in der Vermarktung von Städtetrips stumm bleibt.
Ungewisse Zukunft der Musicals
Bleibt nur die Zugmaschine Starlight Express in Bochum, wo sich die Übernachtungszahlen in den gut 30 Jahren Rollzeit versiebenfacht haben. Denn auch in Essen zieht Stage Entertainment den Stecker, in Duisburg läuft sowieso nichts mehr. „Leerstand tut weh. Wir glauben aber extrem an den Standort Ruhrgebiet“, sagt Burkhard Koch (59), Geschäftsführer von Mehr-BB-Entertainment. Sein Angebot für das Metronom bei Stage verhallte ebenso ungehört wie die Anfrage unserer Redaktion, was aus der Top-Immobilie in 1a-Lage wird. Koch: „Eine Ruine wäre eine Schande.“ Fürs Publikum im Revier. Und als Tourismusfaktor.
Vernetzt, digital, innovativ
Die Anziehungspunkte für Touristen (und Einheimische) im Revier sind weiter unangefochten das Welterbe Zollverein in Essen und der Landschaftspark Nord in Duisburg mit (nach eigenen Angaben) 1,5 bzw. 1,1 Millionen Besuchern jährlich (nationaler Spitzenreiter ist der Kölner Dom mit ca. 6 Mio). Die Landestourismusstrategie für NRW setzt auf Digitalisierung und Vernetzung sowie Erschließung der Auslandsmärkte.
5 Millionen Touristen: Düsseldorf neu erleben
Läuft in der Landeshauptstadt! Zum ersten Mal fünf Millionen Übernachtungen, viele neue (Boutique-)Hotels, drei direkt am Düsseldorfer Hauptbahnhof, der spektakuläre „Kö-Bogen 2“ begrünt die City ab Frühjahr und auch 2021 ist mit dem Beuys-Jahr bereits im Bilde. Denn auch in der Altbier-Altstadt hat man begriffen, dass allein mit Junggesellenabschieden auf der längsten Theke und dem Kerngeschäft Messe, Messe, Messe kein einziger Gast extra zu erobern ist.
Frische Attraktionen setzen deshalb auf den Sound der Stadt: Die Toten Hosen und Kraftwerk werden auf musikalischen Führungen verfolgt: „Entlang der Gassen, zu den Rheinterrassen; über die Brücken, bis hin zu der Musik“. Und die größte japanische Community Deutschlands wird als Little Tokyo vermarktet, die neue 25 Hours-Skybar bietet den besten Blick auf die Rheinmetropole, die auch ihre Kulinarik selbstbewusst serviert als „einen der größten Food-Märkte der Welt“.
8 Millionen Touristen: Sauerland ganzjährig geöffnet
Gegen das Sauerland mit zum dritten Mal in Folge rund acht Millionen Gästeübernachtungen kommen Mitbewerber wie die Eifel oder der Teutoburger Wald nicht an. Doch auch hier kann man sich keinen Stillstand erlauben und nicht allein auf den Winterzauber setzen. Der E-Bike-Boom lässt die Mittelgebirgswelten ganzjährig auch für neue Zielgruppen erfahrbar werden. „Seelenorte“ wiederum sind Grotten oder Kuppen oder Steinbrüche, die für Menschen in ihrer Umgebung eine besondere Bedeutung besitzen – da wird „die Qualität der lebendigen Stille“ buchbar gemacht. Natur pur also als Menschen-Magnet vor allem für Holländer (70 Prozent), verbunden mit der Sehnsucht nach emotionalen Erlebnissen. Das ist ein Ergebnis des Besuchermonitorings, auf das Pressesprecher Rouven Soyka (32) verweist: „Wir wollen gleichermaßen die Konservativen wie die Performer ganz gezielt erreichen.“ Jüngere und urbane Klientelen eben.
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