Sauerland. Das Land der tausend Berge ist das Herz der drittstärksten Industrieregion Deutschlands. Es braucht einen Digitalisierungsschub

Dieses Sauerland. Es ist kaum berechenbar. Tausend Berge und hinter beinahe jeder Biegung, im sanften Tal wie auf den Höhen, könnte plötzlich eines dieser zahlreichen Erfolgsunternehmen zum Vorschein kommen. Über 160 Weltmarktführer sind offiziell in Südwestfalen beheimatet. In Wahrheit sind es noch eine ganze Reihe mehr. Aber, Schwamm drüber.

Der Begriff Südwestfalen ist ein Kunstgriff, um im Vergleich zu nahen Ballungszentren an Rhein und Ruhr in der Politik besser wahrgenommen zu werden. Verkopftes Vorgehen. Mit mittelmäßigem Erfolg. Es könnte schon ein Indiz dafür sein, die Dinge über kurz oder lang lieber wieder beim richtigen Namen zu nennen. Sauerland zum Beispiel. Die Region ist die Herzkammer von Deutschlands drittstärkster Industrieregion. Hier gibt es prima Jobs bei prima Firmen. Überwiegend familiengeführte Mittelständler, die sich intuitiv um ihre Leute kümmern, ohne dass sie dafür je einen Coach hätten engagieren müssen, der für viel Geld etwas über Work-Life-Balance, Familienfreundlichkeit und Benefits für Beschäftigte doziert. Sichere Arbeitsplätze seit Jahrzehnten, mitunter sogar Jahrhunderten. Die Arbeitslosenquoten liegen hier in Orten wie Schmallenberg oder Olsberg seit Ewigkeiten unter der oder um die drei Prozenthürde. Vollbeschäftigung.

Das Sauerland, schwärmt der Tourismuschef Thomas Weber, sei „zugleich urlaubserprobte Erholungslandschaft mit einem Höchstmaß an Lebensqualität“. Das hört sich nach purer Entschleunigung an. Einerseits wirklich schön. Andererseits ein Problem, und zwar ein großes. Die Region mit Herz benötigt womöglich Schrittmacher auf dem Weg ins digitale Zeitalter, dessen Entwicklung rasant verläuft.

Junge Leute kommen nur zum Schützenfest

Der demografische Wandel schlägt bereits voll zu. Viele junge Leute wandern ab. Kommen sie wieder, dann meistens, weil Schützenfestzeit ist. Es gibt hier in der Heimat zwischen Altena und Arnsberg, zwischen Warstein, Winterberg und Wenden zunehmend weniger Menschen. Und damit immer weniger Fachkräfte.

So sah das Cover zum Thema aus. Der Image-Check zum Sauerland erschien in der Digitalen Sonntagszeitung. APER TEASER
So sah das Cover zum Thema aus. Der Image-Check zum Sauerland erschien in der Digitalen Sonntagszeitung. APER TEASER © *Rechteinhaber/Fotograf | mmazza

Das liegt auch am Image, um das sich seit 20 Jahren der Verein namens „Sauerland Initiativ“ bemüht. Eine Initiative, in der sich namhafte Unternehmen und Privatpersonen dafür engagieren. Dafür, dass die Vorzüge dieser Region nicht im Verborgenen bleiben und sich nicht nur in der Dorfkneipe rund um den eigenen Kirchturm beim guten Bier von einer der drei großen Brauereien Veltins, Warsteiner oder Krombacher bequasselt werden. „Mittelgebirge, aber alles andere als Mittelmaß“ lautet ihre Losung, die über die Grenzen des Sauerlands transportiert werden soll.

Dafür wurde sogar ein zweiter Begriff erdacht, der den Machern viel besser gefällt als das technische Südwestfalen: „Sauerlandität“. Der Unternehmer Walter Mennekes, Mitbegründer der Initiative, dessen Unternehmen den Standard-Ladestromstecker für Elektromobile erfand, ist einer der rührigen Markenbotschafter und selbst bestes Beispiel dafür, dass der Sauerländer keineswegs der Typ Mensch ist, der sich bei den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen versteckt. Als Vizepräsident des Fußballclubs FC Bayern München jettet Mennekes ziemlich häufig zwischen seinem Heimatort Kirchhundem am Rothaarsteig und der Metropole München hin und her. Im Team der Initiative spielen zahlreiche bekannte Namen mit und werben mit den Vorzügen ihrer Heimat – ob der Marsberger BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke oder der Arnsberger CDU-Politiker Friedrich Merz.

Abgeschnitten von der Welt

Das Sauerland hat tatsächlich sehr viel zu bieten. Aber es hat auch von manchem viel zu viel: Funklöcher. Unterversorgung mit moderner Datenanbindung. In der reizvollen Region unterwegs zu sein, bedeutet zu häufig, sich abgeschnitten von der Welt zu fühlen – der digitalen jedenfalls. LTE und das blanke Nichts liegen hier mitunter nur einen Schritt voneinander entfernt. Ein ungewolltes Abenteuer. Hier leben? Für die Generation Smartphone, die ihre Lebensqualität an der angezeigten Signalstärke im Display der ganzen Welt im Taschenformat bemisst, undenkbar.

Robotertechnik aus dem Sauerland: Die IBG-Automation GmbH aus Neuenrade gehört zu den einhundert innovativsten Firmen Deutschlands.
Robotertechnik aus dem Sauerland: Die IBG-Automation GmbH aus Neuenrade gehört zu den einhundert innovativsten Firmen Deutschlands. © ffs | MATTHIAS GRABEN

Bundesforschungsministerin Anja Karliczek, Christdemokratin aus dem ebenfalls nicht sonderlich dicht besiedelten Münsterland, hat sich vor gut einem Jahr mit einem Statement bei den Sauerländern schwer in die Nesseln gesetzt: „5G ist nicht an jeder Milchkanne notwendig.“ Punkt. Vehementer Widerspruch. Weil sich die Menschen in ländlicheren Regionen zurückgesetzt, ausgegrenzt fühlten. Und weil nicht wenige der erfolgreichen Firmen fürchten, nicht nur im weltweiten Web nicht vorwärts zu kommen, sondern, viel schlimmer, im weltweiten Wettbewerb abgehängt zu werden.

Von Palo Alto bis Bigge-Valley

Abwandern? „Es hat nicht viel gefehlt“, sagt Rafael Laguna rückblickend. Als es darum ging, eine neue Firmenzentrale für OpenXchange (OX) am Gründungsstandort Olpe zu bauen, war es schon ärgerlich, mehrere zehntausend Euro in die Hand nehmen zu müssen, um eine ausreichende Datenanbindung von der Telekom zu erhalten. Das eigentliche Problem war aber, überhaupt angebunden zu werden. OX ist eine Softwareschmiede mit knapp 300 Beschäftigten, hat überall auf der Welt Standorte, natürlich auch in Palo Alto in Kalifornien. Große Provider wie 1+1 oder Vodafone in Deutschland, Kabelanbieter in den USA oder Orange in Frankreich nutzten Olper Know-how. Weit über 200 Millionen Email-Accounts weltweit funktionieren mit Software von Open-Xchange. Die Entwickler könnten überall auf der Welt arbeiten. Aber der Tesla-Fahrer Laguna und sein Kompagnon Frank Hoberg wollten das „Bigge-Valley“ nicht verlassen. Und müssen es auch nicht.

Wer den Anschluss verpennt, wird abgehängt

Laguna ist ein ausgewiesener Experte, wenn es um Digitalisierung geht. Seit vergangenem Jahr ist er im Auftrag der Bundesregierung nebenberuflich als Gründungsdirektor der Agentur für Sprunginnovationen unterwegs. Die „SprinD GmbH“ wurde im Dezember 2019 in Leipzig gegründet und soll mit Milliarden vom Bund bahnbrechenden technischen Innovationen, wie es vor noch gar nicht langer Zeit das Smartphone war, zum Erfolg verhelfen.

Kaum jemand weiß besser als Laguna, welche Rolle die Digitalisierung heute schon spielt und welche Chancen und Risiken mit ihr für eine Region wie das Sauerland verbunden sind: „Ich glaube, es gibt eine Menge Menschen, die vor dem gesamten Digitalisierungsthema eine Höllenangst haben.“ Aus seiner Sicht unbegründet. Natürlich sei der Ausbau der Infrastruktur eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Insofern seien auch der Bund, das Land, aber auch die Kommunen selbst in der Verantwortung. In dieser Reihenfolge. Im Zweifel auch umgekehrt.

Jedenfalls wird es höchste Zeit. „Wer den Anschluss an die Digitalisierung verpennt, den wird es in 20 Jahren nicht mehr geben“, prognostiziert Rafael Laguna mit Blick auf die heute noch so starke Sauerländer Wirtschaft mit ihren zahlreichen Automobilzulieferern. Die erleben gerade die ersten Auswirkungen des Strukturwandels in der Branche, in der plötzlich ganz neue Mitspieler wie Google, Sony oder eben Tesla sich einmischen. „Irgendein Elon Musk wird in Zukunft in jeder Branche kommen“, sagt Laguna.

5G-Ballons im Sauerländer Himmel

Geschäftsmodelle funktionieren nicht mehr ohne digitale Infrastruktur – und modernes Leben auch nicht. „Bund, Land und Gemeinden müssen aufwachen und in den Handlungsmodus kommen.“ So schwierig, wie es manchem erscheint, sei es auch gar nicht. Die Milchkannen-Diskussion erscheint dem Digitalexperte nebensächlich: „Wir brauchen 5G für gar nichts. Nicht einmal für das Autonome Fahren. Alles, was wir für eine Vernetzung tun müssen, können wir schon. 5G macht es nur schneller.“ Das Schöne sei, man könne vor Ort einfach selbst etwas tun, um die so wichtige Infrastruktur zu schaffen. „Wenn eine Gemeinde sagt, ich will das, dann ist es auch möglich. Man kann anfangen, selber 5G zu bauen“. Antennen auf Dächer. Oder Ballons in die gute Sauerländer Luft, um Funklöcher zu stopfen, wo eine Telekommunikationsgesellschaft abwinkt.

Pfiffige Ortsvorsteher und Wirtschaftskammern seien gefragt, um der Infrastruktur auf die Sprünge zu helfen. Nur passieren müsste es jetzt. „Dann werden die smarten jungen Leute auch ins Sauerland kommen“, ist Rafael Laguna überzeugt, denn, stimmt die Infrastruktur, sei es in Zukunft nicht entscheidend, von wo aus man arbeite. Warum also nicht im Land der tausend Berge bei einem der vielen Weltmarktführer – im Sauerland?

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