Essen. Seit die Berliner Ampel die Fernwärme entdeckt hat, stapeln sich bei der Steag-Tochter Iqony die Aufträge. Warum der Ausbau nicht schneller geht.

Heizen ganz ohne eigenen Gas- oder Ölbrenner: Fernwärme soll nach dem Willen der Bundesregierung neben Wärmepumpen eine zentrale Rolle spielen beim Verzicht auf fossile Brennstoffe. Gerade im Ruhrgebiet kann das für viele Gebäude die Lösung sein. Denn dort, wo viele Menschen auf engem Raum leben und wo Industrieanlagen oder Kraftwerke ohnehin Wärme erzeugen, sind die Bedingungen für Fernwärme ideal. Das Potenzial sei riesig, betont die Steag-Tochter Iqony, eine der größten Fernwärme-Anbieterinnen im Revier neben den Energieriesen Eon und Uniper.

Und riesig ist aktuell auch das Interesse von Immobilienbesitzern. Viele sind verunsichert durch die monatelangen Debatten um das Heizungsgesetz der Ampel-Koalition und haben Angst, etwa eine Wärmepumpe und gleichzeitig eine energetische Sanierung ihres Hauses nicht zahlen zu können. Da mit Fernwärme auch unsanierte Gebäude gut beheizt werden können, fragen viele nun nach, ob sie ans örtliche Fernwärmenetz kommen können. „Jeden Tag haben wir aktuell um die 50 Anfragen, früher waren es zehn, vielleicht auch mal 15“, sagt Fernwärme-Vertriebschefin Monika Klement im Gespräch mit unserer Zeitung.

Steag-Fernwärmenetz wächst seit Jahrzehnten

Der Essener Energiekonzern Steag baut sein Fernwärmenetz seit Jahrzehnten aus – kontinuierlich, aber langsam. Die junge grüne Tochter Iqony hält 51 Prozent an der Iqony Fernwärme, die übrigen 49 Prozent hat sich 2017 die Meag gesichert, der Vermögensmanager von Munich RE und Ergo. Wachstum kennt man hier als, doch Habecks Wärmewende hat praktisch über Nacht eine ganz neue Lage geschaffen: „Die Aufträge stapeln sich, wir erleben seit mehreren Monaten eine sprunghaft gestiegene Nachfrage, einen regelrechten Fernwärme-Hype“, sagt Michael Straus, der kaufmännische Geschäftsführer.

Deshalb wird auch die Geduld größer werden müssen. Denn die vielen neuen Aufträge abzuarbeiten, werde dauern, betont Straus, allein schon, weil „in den meisten Fällen größere Arbeiten anfallen, etwa neue Leitungen verlegt werden müssen“. Weil für Fernwärmeanschlüsse zwei große Rohre gelegt werden, müsse in aller Regel die Straße aufgerissen werden. Das wiederum verlange ein Abstimmung mit dem Baustellen-Management der Stadt, damit einzelne Viertel nicht zu stark belastet werden.

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Weil Iqony wie auch andere Fernwärmenetzbetreiber ihr Ausbautempo nicht beliebig erhöhen können, erhöht sich die Wartezeit, bei der Steag-Tochter hat sie sich binnen Monaten verdreifacht. Bis ein neuer Anschluss fertig ist, habe es vor Beginn der Energiekrise rund sechs Monate gedauert, sagt Vertriebschefin Klement – „jetzt sind es 18 Monate“. Und auch das ist noch nicht die ganze Wahrheit: „Bevor ein Vertrag unterschrieben werden kann, muss zuerst die Förderung beantragt und genehmigt worden sein. Und auch das dauert Monate und immer länger, liegt aber nicht in unseren Händen“, bedauert Klement. In dieser Tendenz dürfte es weitergehen, denn die Anfragen reißen nicht ab, werden immer mehr.

Ampel-Kompromiss verschafft Leuten mehr Zeit

Deshalb ist Geschäftsführer Straus froh, dass die Bundesregierung ihr Heizungsgesetz derart geändert hat, dass nun zuerst die kommunalen Wärmepläne bis 2028 aufgestellt werden müssen und damit ein paar Jahre Zeit gewonnen werden. „Viele Menschen haben sich überfordert und unter Druck gesetzt gefühlt, ihre Heizung schnell austauschen zu müssen. Jetzt können Sie sich erst einmal in Ruhe informieren, was die beste Lösung für Ihr Haus ist.“

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Iqony deckt in seinem Essener Bestandsgebiet bereits rund 30 Prozent des Wärmebedarfs ab. Dort, wo bereits Fernwärmeleitungen liegen, ließen sich theoretisch alle Haushalte anschließen, sagt Straus. Und weiß aus der jüngeren Vergangenheit zu berichten: „60 Prozent derjenigen, die ihre Gasheizung ausbauen, wechseln in diesen Gebieten zur Fernwärme.“

Hunderttausende Haushalte im Revier beziehen bereits Fernwärme

Das Unternehmen versorgt bisher in 10.500 Gebäuden rund 275.000 Wohnungen in Essen, dem Gelsenkirchener Süden und Bottrop mit Direktwärme aus der Fernleitung, in Gelsenkirchen gemeinsam mit dem Düsseldorfer Uniper-Konzern. Der ist vor allem im nördlichen Ruhrgebiet bis nach Datteln präsent, als dritter großer Anbieter versorgt der Dax-Konzern Eon Haushalte in Dortmund, Hagen und Recklinghausen mit Fernwärme. In anderen Kommunen betreiben etwa die Stadtwerke eigene Fernwärmenetze, so versorgen die Stadtwerke Duisburg rund 70.000 Privathaushalte, öffentliche Gebäude und Wohnblöcke von Immobilienunternehmen mit Fernwärme.

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Wer erfahren will, ob sein Haus angeschlossen werden kann, bekommt bei den Unternehmen darüber Auskunft. In Essen, Bottrop und Gelsenkirchen reicht oft schon ein erster Blick auf die entsprechende Online-Karte von Iqony: In großen Bereichen etwa im Essener Norden, wo Leitungen liegen, lassen sich viele Häuser vergleichsweise unkompliziert und schnell anschließen. In den Erweiterungsgebieten im Westen und Osten Essens dauert es etwas länger, hier wird nach und nach ausgebaut. Beliebt ist Fernwärme in diesen Bereichen bisher verstärkt bei Großabnehmern, darunter die neue Hauptverwaltung von Aldi Nord in Essen-Kray und der TüV Nord.

„Können sagen, wie lange es dauert und was es kostet“

Wer es ganz genau wissen will, fragt nach. „Wir können sagen, wo wir hinkommen, wie lange es dauert und was es kostet“, so Vertriebschefin Klement. Preise mag sie nicht nennen, weil sie je nach den örtlichen Begebenheiten und dem zu betreibenden Aufwand sehr unterschiedlich ausfielen. Die Stiftung Warentest nennt eine Spanne zwischen 5000 und 20.000 Euro.

Für den Fernwärmeausbau müssen in der Regel die Straßen aufgerissen werden, so wie hier vor einem Jahr im Essener Moltkeviertel. Weil das Anwohnerinnen und Anwohner nervt, können nicht zu viele Baustellen gleichzeitig begonnen werden. Das beschränkt die Möglichkeit, das Ausbautempo zu erhöhen.
Für den Fernwärmeausbau müssen in der Regel die Straßen aufgerissen werden, so wie hier vor einem Jahr im Essener Moltkeviertel. Weil das Anwohnerinnen und Anwohner nervt, können nicht zu viele Baustellen gleichzeitig begonnen werden. Das beschränkt die Möglichkeit, das Ausbautempo zu erhöhen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Die entscheidende Frage für die Kommunen ist aber die, wo Fernwärme abseits der bestehenden Leitungen noch eine Lösung werden kann. Das müssen sie in den kommenden Jahren in Erfahrung bringen, um ihre von der Bundesregierung eingeforderte Wärmeplanung aufzustellen. Iqony könne für jede Straße und jedes Haus sagen, welche Gebäude sich schnell und prioritär anschließen lassen, welche nur mit staatlicher Förderung wirtschaftlich anzuschließen seien und welche sich nicht für Fernwärme eignen, sagt Michael Straus. Wichtig seien dafür ausreichende und verlässliche staatliche Förderprogramme.

An den Stadträndern kommen nur Insellösungen infrage

An den Stadträndern werde es schwierig. „Fischlaken oder Heidhausen werden wir nicht versorgen können“, nennt Straus als Beispiel den südlichsten Teile von Essen-Werden als Beispiel. Für größere Siedlungen werde es aber auch Insellösungen geben, in denen die Fernwärme zum Beispiel mit Großwärmepumpen, Erdwärme, Solarthermie oder dereinst mit kleinen Wasserstoff-Kraftwerken erzeugt werden kann. Neue Großprojekte wie die erst mit großen Erwartungen geplante und vor Jahren verworfene Fernwärmeschiene Rhein-Ruhr vom Duisburger Norden nach Bottrop werde es nicht mehr geben, „weil es eher in Richtung dezentraler Lösungen geht. Die Netze werden zusammenwachsen, aber nicht mit solchen Großleitungen“, so Straus.

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Iqony baut pro Jahr rund 15 Kilometer neue Fernwärme-Leitungen. Rund 250 Gebäude würden neu ans Netz angeschlossen und damit rechnerisch 4000 Wohnungen jedes Jahr. Warum das nicht schneller geht? „Wir bräuchten dafür mehr Partnerfirmen im Tiefbau, im Hochbau und natürlich auch Heizungsbauer. Und wegen des großen Fachkräftemangels fehlen hier einfach die Kapazitäten. Da geht es uns wie vielen anderen“, sagt der technische Geschäftsführer Matthias Ohl. „Wir könnten auch 20 bis 25 Kilometer schaffen, wenn wir genügend Fachkräfte hätten.“ Straus ergänzt mit Blick nach Berlin: „So schnell, wie man ein Gesetz aus dem Boden gestampft hat, findet man keine Fachkräfte.“

Iqony sieht gewachsenes Interesse als große Chance

Ohl betont aber auch, wie sehr sich Iqony über die gewachsene Aufmerksamkeit und Wertschätzung für die Fernwärme freut und dass man die Herausforderung annimmt. „Unser Ehrgeiz, den Ausbau der Fernwärme weiter voranzutreiben, ist ungebrochen. Wir wollen das als große Chance nutzen. Noch gibt es für den Ausbau unseres Netzes keine Grenzen.“

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Was gern ausgeblendet wird, ist eine weitere große Aufgabe, die es parallel zu bewältigen gilt: Fernwärme ist nur so klimafreundlich wie es die Industrien und Kraftwerke sind, die ihre Wärme ins Netz leiten. Bisher leisten dies für das Iqony-Netz vor allem Gas- und Müllheizkraftwerke im Ruhrgebiet. Zuletzt wurde die Essener Aluhütte Trimet als Abwärmelieferant ab 2025 gewonnen. Klimaneutral wird Fernwärme erst, wenn die Kraftwerke und Industrien es sind.

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