Essen. Konsumflaute, steigende Kosten und Lieferprobleme nehmen den Einzelhandel in die Zange. Ein rasches Ende der Krise sehen Experten nicht.
Das Konsumklima in Deutschland ist auf einen historischen Tiefpunkt gesunken, die Umsätze im Einzelhandel brechen ein. Nach zwei Wintern, die von der Corona-Pandemie geprägt waren, stehen Händlerinnen und Händler wegen rasant steigender Preise und möglicher Energieengpässe vor einer dritten krisengeprägten dunklen Jahreszeit. Der Handel sei gleich „drei Tsunamis“ ausgesetzt, sagt der Handelsforscher Boris Hedde: Kaufzurückhaltung, vervierfachte Energiekosten und Lieferschwierigkeiten.
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Der Essener Warenhauskonzern Galeria Karstadt Kaufhof hatte bereits am Freitag die Notbremse gezogen und den Tarifvertrag mit der Gewerkschaft Verdi gekündigt. Gehaltssteigerungen, die im kommenden Jahr anstehen, sind damit erst einmal vom Tisch. Die rund 17.000 Beschäftigten müssen verzichten. Der von Verdi scharf kritisierte Schritt sei erfolgt, „um unser Unternehmen wieder insgesamt nachhaltig zu stabilisieren“. Der Integrationstarifvertrag hatte betriebsbedingte Kündigungen bis zum Jahr 2024 ausgeschlossen.
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„Die Lage ist ernst“, sagte Peter Achten, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands NRW, schon vor der Zuspitzung der Krise bei Galeria Karstadt Kaufhof. Bei einer Umfrage im vergangenen Monat berichteten 57 Prozent der Händler von einer deutlich geringeren Kundenfrequenz. 18 Prozent bezeichneten den Schwund sogar als drastisch. Gleichzeitig stiegen für sie die Strompreise im Schnitt um 87 Prozent, die für Wärme sogar um 99 Prozent. „Das bedeutet, dass mitunter kerngesunde Unternehmen in eine Schieflage geraten, aus der sie alleine nicht mehr herauskommen“, meint Achten und fordert
Brandbrief an die NRW-Landesregierung
Inzwischen hat der Handelsverband einen „Brandbrief“ an die Landesregierung abgeschickt. Denn nur noch 15 Prozent der Händler in NRW schätzen ihre aktuelle Lage als gut ein. Der Energiekostenanteil am Umsatz, auch das ergab die Umfrage, habe sich von durchschnittlich 1,5 Prozent im Zeitraum 2019 bis 2021 bereits verdoppelt und werde sich 2023 voraussichtlich verdreifachen. 22 Prozent der befragten Unternehmen sehen in den steigenden Energiekosten schon aktuell eine Existenzbedrohung, 48 Prozent bei langfristig höheren Preisen.
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Da auch die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht nur unter explodierenden Energiekosten, sondern auch unter stark steigenden Preisen für Konsumgüter und Lebensmittel zu leiden haben, sinkt ihre Kaufbereitschaft. Einer Umfrage des Handelsverbands Deutschland zufolge, schränken sich 60 Prozent der Kundinnen und Kunden ein und kaufen verstärkt Sonderangebote. Ein Drittel nimmt weniger Artikel mit nach Hause. In der Folge brach der Umsatz des deutschen Einzelhandels im August im Vergleich zum Vorjahresmonat um 4,3 Prozent ein.
Institut: Grundängste um die eigene Existenz
Das Kölner Handelsinstitut IFH hört sich regelmäßig in der Bevölkerung um. „Die Verunsicherung ist groß. Und sie ist auch tiefsitzend“, sagt Bereichsleiter Ralf Deckers. „Hier werden Grundängste um die eigene Existenz, den liebgewonnen Lebensstil aktiviert.“ Daran würden mutmaßlich auch die von der Bundesregierung geplante Gaspreisbremse und finanzielle Entlastungen nichts ändern. „Trotz Deckelung wird Energie teurer werden und sich dann zu den sonstigen Lebenshaltungskosten hinzuaddieren“, prognostiziert Deckers. „Der Preishammer trifft dann noch härter.“
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IFH-Geschäftsführer Boris Hedde spricht von „dramatischen Gegebenheiten“ und „drei Tsunamis“ auf den Handel zurollen: Konsumzurückhaltung gepaart mit steigenden Kosten für Beschaffung und Herstellung führten zu noch weniger Ertrag. „Mit Energiekosten, die viermal oder noch größer sind als in den Jahren zuvor, schmilzt die in vielen Handelsbranchen ohnehin schmale Marge wie Schnee im Frühling“, so Hedde. Der dritte Tsunami seien Lieferschwierigkeiten vor allem aus China und der Personalmangel im Handel.
Händler planen Stellenabbau
Auch der Geschäftsklima-Marktbericht von NRW-Bank und ifo-Institut für den Monat September sieht eine deutliche Eintrübung. „Die Teuerung macht auch dem Handel in Nordrhein-Westfalen massiv zu schaffen. Erstmals seit über zwei Jahren beurteilten die Groß- und Einzelhändler ihre Lage in der Mehrzahl wieder negativ“, schreiben die Autoren. Die Anstrengungen der Verbraucherinnen und Verbraucher, den während der Corona-Lockdowns zurückgestellten Konsum nachzuholen, seien „größtenteils abgeschlossen“. Der Ausblick verdüstere sich. „Viele Händler planen daher, ihre Belegschaft zu reduzieren“, heißt es in dem Bericht.
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Die Talfahrt bei der Anschaffungsneigung bekommen aber nicht wie bislang vor allem die Ladengeschäfte zu spüren. Auch der zuletzt erfolgsverwöhnte Onlinehandel leidet. Zwischen Juni und September lagen die Umsätze im E-Commerce mit 19,8 Milliarden Euro um 10,8 Prozent unter dem Vorjahresniveau, wie der Branchenverband bevh jüngst mitteilte. „Der E-Commerce kann sich nicht von der Konsumstimmung abkoppeln“, sagte der stellvertretende bevh-Hauptgeschäftsführer Martin Groß-Albenhausen. Eine schnelle Verbesserung der Lage erwartet auch er nicht.
Ausweg: mehr Kundennähe
Und gibt es einen Ausweg? Institutsleiter Boris Hedde verweist auf das nahende Weihnachtsgeschäft und Verkaufsaktionen wie den Black Friday. „Unternehmertum ist mehr denn je gefragt“, sagt er und rät zur Besinnung auf die Kundinnen und Kunden. „Nach den Zeiten mit Fokus auf Prozessoptimierung folgt nun bestimmt die Zeit der Kundennähe.“