Essen. Studie: Anteil schlecht verdienender Vollzeitjobber ist in Essen und Duisburg relativ gering und am Rande des Ruhrgebiets hoch. Die Städtezahlen.

Mit seiner verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit liegt das Ruhrgebiet stets unrühmlich weit oben, wenn in Deutschland die Armutsquoten oder Hartz-IV-Zahlen verglichen werden. Auch der Niedriglohnsektor gilt zwischen Duisburg und Dortmund als besonders ausgeprägt. Aber: Wer eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitanstellung hat, verdient in vielen Revierstädten zumeist ordentlich. Das geht aus einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Allerdings müssen auch im Ruhrgebiet besonders Frauen und Jüngere oft mit wenig auskommen.

Das Forschungsinstitut WSI der Böckler-Stiftung hat erstmals Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) zum Anteil der Geringverdienenden für alle 401 deutschen Städte und Kreise ausgewertet. Daraus geht hervor, dass bundesweit 18,7 Prozent der Vollzeitbeschäftigten „im unteren Entgeltbereich“ liegen. Während Armutsstudien darauf schauen, ob die Nettoeinkünfte eines Haushalts zum Leben reichen, vergleicht die BA hier die Bruttomonatsgehälter aus den Meldungen der Arbeitgeber. Als Geringverdiener-Grenze wertet sie, was weniger als Zweidrittel des mittleren Einkommens beträgt.

Niedriglohn-Vollzeitjob beginnt unter 2284 Euro

Diese Grenze lag im jüngsten Betrachtungsjahr 2020 bei 2284 Euro brutto. Zur Einordnung: Ein vierköpfiger Hartz-IV-Haushalt erhält gut 1400 Euro netto aus dem staatlichen Regelsatz und eine knapp 100 Quadratmeter große, warme Wohnung. Ein Alleinverdiener käme mit 2300 Euro brutto nur schwer über diese Grundsicherung.

Die Unterschiede in den Städten sind allerdings riesig: Die lokale Spanne reicht bundesweit von nur 6,4 Prozent Geringverdienenden in der Autostadt Wolfsburg bis hin zu 43,2 Prozent im sehr strukturschwachen Erzgebirgskreis. Die Studienautoren sehen ein grundsätzliches Land/Stadt-Gefälle mit besonders großen Vorteilen in Städten mit großen Industrie- und Finanzarbeitgebern, die das Lohnniveau heben.

Konzernzentralen heben das Lohnniveau in Essen

Das zeigt sich auch im Ruhrgebiet: Essen hat mit 15,0 die niedrigste Geringverdienenden-Quote unter seinen Vollzeitbeschäftigten. Daran tragen die Dax-Konzerne Eon, RWE und Brenntag sowie die MDax-Konzerne Thyssenkrupp und Evonik mit ihren Essener Zentralen entscheidend bei.

Auch interessant

Bottrop, Gelsenkirchen und Oberhausen bewegen sich die dagegen im bundesweiten Durchschnitt. Die höchsten Geringverdiener-Anteile gibt es in den Kreisen an den Rändern des Ruhrgebiets – mit dem Höchstwert von 22,3 Prozent im Kreis Recklinghausen, gefolgt von der Stadt Unna (21,8) und dem Kreis Wesel (20,3).

Deutlich mehr Frauen verdienen trotz Vollzeitjob wenig

Die bekannten und viel beklagten Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern werden bei den Vollzeitjobs besonders deutlich: Jede vierte in Vollzeit arbeitende Frau in Deutschland zählt zu den Niedriglöhnern, bei den Männern sind es nur 15,4 Prozent. Auch hier steht die Konzernstadt Essen mit den geringsten Unterschieden (Männer 13,0/Frauen 18,6) revierweit am besten da. Besonders krass, weil mehr als doppelt so groß ist das Geschlechtergefälle etwa in Herne, Bottrop und Recklinghausen (siehe Grafik).

Das dürfte eindeutig daran liegen, dass Frauen auch in Vollzeitjobs besonders häufig in den klassischen Niedriglohnbereichen arbeiten wie dem Gastgewerbe, in dem zwei von drei Vollzeitkräften in die unteren Einkommen fallen. Nicht so extrem, aber auch weit überdurchschnittlich betroffen sind der Einzelhandel und das Sozialwesen – Branchen, die wie auch die eher Männer-dominierte Logistik im Ruhrgebiet zu den Wachstumsbranchen gehören. Ihre überdurchschnittliche Präsenz in diesen Berufen erklärt auch die oft sehr niedrigen Löhne ausländischer Vollzeitjobber und von Menschen ohne Berufsabschluss.

Untere Einkommensschicht wird kleiner

Insgesamt ist der Anteil der Geringverdienender bundesweit im vergangenen Jahrzehnt gesunken – von 21,1 Prozent im Jahr 2011 auf nun 18,7 Prozent. Im Pandemiejahr 2020 ist die Quote allerdings in Westdeutschland erstmals wieder leicht gestiegen – um ein Zehntel auf 16,4 Prozent. Weil im gleichen Zeitraum die Zahl der Vollzeitbeschäftigten um satte 2,1 Millionen auf 23,7 Millionen gestiegen ist und eine wachsende Mehrheit von ihnen in den oberen beiden Einkommensdritteln liegt, lässt sich aus der Studie auch ein Anwachsen der mittleren Einkommensschicht herauslesen.

Das widerspricht der gängigen These vom Schrumpfen der Mittelschicht. Grund sind die sehr verschiedenen Definitionen. So hält die OECD alle, deren verfügbares Einkommen zwischen 75 und 100 Prozent des mittleren Einkommens liegt, für armutsgefährdet. Dagegen sagt der Autor der WSI-Studie, Helge Emmler: „In den letzten Jahren ist es gelungen, den unteren Entgeltbereich zurückzudrängen.“ Und er sieht vor allem für Ostdeutschland eine gute Chance, mit der von der neuen Bundesregierung geplanten Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro einen weiteren „Schritt in die richtige Richtung“ zu tun.