Essen. Der Staat rettet die Lufthansa, will aber nicht bei Thyssenkrupp einsteigen. Wann soll Politik Unternehmen mit Steuergeldern retten? Eine Analyse
In Krisen wie dieser rufen viele nach dem Staat und manche werden erhört. Er ist bei der Lufthansa eingestiegen, hält die TUI am Leben, pumpt Milliarden in die Wirtschaft, damit sie diese Pandemie überlebt. Keine Überraschung, dass die IG Metall den Staat nun auch in der Pflicht sieht, den Stahlriesen Thyssenkrupp zu retten. Doch wann darf und wann sollte sich der Staat an Unternehmen beteiligen? Wer ist von existenzieller Bedeutung für das Gemeinwohl – sprich systemrelevant? Und wie verträgt sich die Festlegung des NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU), der Stahl sei systemrelevant, mit seiner Ablehnung eines Staatseinstiegs?
Schröder und der Sündenfall Holzmann
Die Beantwortung dieser Fragen wird noch heute erschwert durch den (Sünden-)Fall Holzmann. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) rettete mit Geld und Einfluss Ende 1999 den Baukonzern Philipp Holzmann und ließ sich dafür feiern. Zweieinhalb Jahre später ging die Firma trotzdem pleite. Ihre Rettung erwies sich als Rohrkrepierer und Vorlage für alle, die schon immer gesagt hatten, der Staat sei kein besserer Unternehmer. Dass Schröder recht offensichtlich nicht nur um Arbeitsplätze, sondern auch um sein eigenes Image als Macher kämpfte, gilt Politikern noch heute als mahnendes Negativbeispiel für staatliche Interventionen.
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Dabei war es auch Schröder, der mit einem viel weitreichenderen Eingriff bereits einen Erfolg erzielt hatte, der bis heute auf seiner Habenseite steht – zumindest in Niedersachsen: Anfang 1998 kaufte das Land unter Ministerpräsident Schröder den Stahlkonzern Preussag, den dessen Mutter an den österreichischen Konkurrenten Voestalpine abgeben wollte. Anders als Holzmann gibt es Preussag Stahl unter dem Namen Salzgitter noch heute. Der IG Metall dient Salzgitter sogar als Vorbild für ihre Forderung an NRW-Ministerpräsident Laschet, nun bei Thyssenkrupp den Schröder zu machen.
Salzgitter als Vorbild für Staatseinstieg bei Thyssenkrupp
„Die Situation ist vergleichbar. Allerdings ist die Lage bei Thyssenkrupp noch dramatischer als 1998. Die Geschichte von Salzgitter zeigt, wie hilfreich ein Staatseinstieg sein kann“, sagte jüngst Detlef Wetzel unserer Zeitung, Vize-Aufsichtsratschef von Thyssenkrupp Steel. An den Hochöfen und in den Walzwerken geht es mal wieder ums Ganze. Der britische Rivale Liberty greift nach dem Duisburger Stahlriesen, die IG Metall will das verhindern und ruft nach dem Staat. Wetzel sieht Laschet in der Pflicht und rüstet verbal auf: „Das ist unser letzter Schuss“, sagte der frühere IG-Metall-Chef, der eigentlich nicht zum Martialischen neigt.
Der Ministerpräsident nennt die Stahlindustrie zwar bei jeder Gelegenheit „systemrelevant“, will von einem Staatseinstieg bisher aber nichts wissen. „Ich glaube am Ende nicht, dass Politiker die besseren Unternehmer sind“ – da war er wieder, dieser Nach-Holzmann-Spruch, diesmal rief ihn Laschet den Stahlkochern bei ihrer Demo in Düsseldorf zu. Dennoch erhielt er freundlichen Applaus, weil er das Bekenntnis hinterherschickte: „Wir werden helfen und wir brauchen Stahl. Thyssen-Krupp gehört zur DNA von Nordrhein-Westfalen“.
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Laschet meint damit Fördergelder für die Entwicklung von grünem Stahl, der mit Wasserstoff statt Kohle als Energieträger hergestellt wird. Dieses Versprechen ist freilich weder neu noch ursächlich von Laschet, sondern Teil der Wasserstoffstrategie der Bundesregierung. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sicherte Thyssenkrupp im August zum symbolischen Start des grünen Hochofens in Duisburg einen Teil der sieben Milliarden Euro zu, die Deutschland in neue Wasserstoff-Technologien investieren will. Die Stahlindustrie veranschlagt die Umstellung auf eine klimaneutrale Produktion allerdings mit 30 Milliarden Euro.
IG Metall: „Wir brauchen den Staatseinstieg“
Diese Langfristperspektive sieht die IG Metall für Thyssenkrupp ohne den Staat aber gar nicht mehr, sondern das Unternehmen im Falle einer Übernahme akut gefährdet, zerschlagen zu werden. „Wir brauchen nicht neue Eigentümer, sondern den Staatseinstieg, um die Transformation zu grünem Stahl hinzubekommen“, sagte IG-Metall-Vorstand und Thyssenkrupp-Aufsichtsrat Jürgen Kerner in Düsseldorf.
Laschet hat derlei Begehrlichkeiten mit seiner Festlegung, der Stahl sei systemrelevant, selbst befeuert. Denn wenn der Staat eine Branche oder ein Unternehmen als unbedingt erhaltenswert einstuft, muss er es im Zweifel retten, was in letzter Konsequenz den direkten Einstieg bedeutet. Das bei einer für systemrelevant erklärten Industrie abzulehnen, ist nicht schlüssig. Wohl deshalb hat Laschet es auch nicht generell, sondern nur für den Moment ausgeschlossen.
Laschet bekleidet zwei Rollen in der Causa Thyssenkrupp
Schließlich hat er gute Gründe zur Zurückhaltung in Sachen Staatseinstieg. Sein liberaler Koalitionspartner mit Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) steht bei diesem Thema von Hause aus auf der Bremse. Zudem bekleidet Laschet nicht nur die Rolle des um Zehntausende Arbeitsplätze bangenden Landesvaters, sondern auch die des Kurators der Krupp-Stiftung als größter Thyssenkrupp-Aktionärin. Einen möglichen Interessenkonflikt wies Laschet gegenüber dem Handelsblatt zurück: Die Stiftung sei ja nicht der Akteur, sondern der Thyssenkrupp-Vorstand. Er könne nur „ab und an mal die Stimme erheben“.
Fest steht aber: Der Erhalt der Stahlsparte im Unternehmen und der Erfolg des Gesamtkonzerns standen und stehen nicht immer auf der gleichen Seite der Vorstands-Agenda, schon gar nicht seiner Großaktionäre. Konzernchefin Martina Merz prüft erklärtermaßen und ohne Widerspruch der Krupp-Stiftung alle Optionen, also auch eine Trennung vom Stahl. Sie gab sich zuletzt aber auch offen für eine Staatsbeteiligung.
Corona lässt Staat mehr intervenieren
Eine ordnungspolitisch begründete Ablehnung eines Staatseinstiegs ist aus Arbeitnehmersicht in diesem Jahr besonders angreifbar. Denn die Corona-Pandemie hat die Grenzen staatlicher Intervention aufgeweicht. Der Krisen-Dramatik geschuldet haben Bund und Länder schneller, unbürokratischer und damit zwangsläufig auch diskursärmer Abermilliarden an Steuergeldern verteilt – in Form von Schutzschirmen, aber auch zur direkten Rettung großer Konzerne wie der TUI und der Lufthansa. Bei der angeschlagenen Fluggesellschaft ist der Staat auch eingestiegen, mit 20 Prozent. Warum das bei der früheren Staats-Airline so leicht geht, bei Thyssenkrupp aber nicht, fragen die Stahlkocher nun mit Recht.
Dass Steuermilliarden an frühere oder aktuelle Staatsunternehmen wie die Bahn offenbar schneller und leichter fließen als an private Unternehmen in Not, nimmt jeder marktliberalen Argumentation gegen Staatsbeteiligungen die Basis. Die Politik verliert an dieser Stelle vor allem auch deshalb an Glaubwürdigkeit, weil sie ihre Motive nicht ehrlich benennt. Systemrelevanz ist in der Corona-Krise zum Universal-Totschlagargument geworden. Strukturen für Energie und Gesundheit etwa sind existenziell für jede Gesellschaft und müssen vom Staat garantiert werden. Aber die Flüge der Lufthansa würden ebenso schnell von Konkurrenten ersetzt wie Stahlprodukte von Thyssenkrupp.
Aus Systemrelevanz muss auch staatliche Hilfe folgen
Es geht bei beiden nicht um wörtlich zu nehmende Systemrelevanz, sondern schlicht um den Erhalt sehr vieler Arbeitsplätze in Deutschland. Dieses Motiv ist gut genug, um als Staat zu intervenieren, Industriepolitik vor allem dann nicht anrüchig, wenn andere Länder ihren Airlines und Stahlkonzernen auch helfen. Wie bei der Lufthansa muss es dem Staat bei Thyssenkrupp darum gehen, diese Pandemie zu überstehen – um anschließend wieder alleine klarzukommen. Für den inflationär verliehenen Status der Systemrelevanz können sich die Stahlarbeiter von Thyssenkrupp in Duisburg, Bochum und Gelsenkirchen nichts kaufen. Wenn der Staat ihn aber feststellt, können sie erwarten, dass auch ihnen geholfen wird. Langfristige Fördermittel sind gut, helfen aber nicht durch die akute Krise.