Essen. Bei Thyssenkrupp ist nach Einschätzung der IG Metall ein staatlicher Schutzschirm erforderlich. Wirtschaftsminister Altmeier lehnt das ab.

  • Die IG Metall und der Betriebsrat von Thyssenkrupp sehen das Land NRW und den Bund in der Verantwortung, den angeschlagenen Stahlriesen zu retten.
  • Für den 16. Oktober plant die IG Metall eine Großkundgebung nahe der Staatskanzlei in Düsseldorf.
  • Für NRW-Ministerpräsident Armin Laschet ist ein staatlicher Einstieg zurzeit kein Thema: Viel mehr gehe es aktuell darum, das Unternehmen beim Übergang zu „grünem Stahl“ zu unterstützen. Auch Wirtschaftminister Altmeier lehnte einen staatlichen Einstieg am Nachmittag ab.

Angesichts der tiefen Krise von Thyssenkrupp schlagen führende Arbeitnehmervertreter Alarm. „Wir brauchen jetzt einen Schutzschirm“, sagt Stahl-Gesamtbetriebsratschef Tekin Nasikkol in einem Doppel-Interview mit Detlef Wetzel, der Vize-Aufsichtsratschef von Thyssenkrupp Steel ist. Im Gespräch mit unserer Redaktion zeichnen Nasikkol und der frühere IG Metall-Chef Wetzel ein dramatisches Bild von der Lage.

Wirtschaftsminister Altmaier lehnt staatliche Hilfe für Stahlindustrie ab

„Das ist unser letzter Schuss“, sagt Wetzel und fordert: „Jetzt muss der Staat einsteigen.“ Der Stahl stehe „vor seiner Existenzfrage“. Das Land NRW und der Bund seien in der Verantwortung, allen voran Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Dieser winkte am Dienstag in Berlin ab, das Thema eines staatlichen Schutzschirms stehe aktuell nicht auf der Tagesordnung. Aktuell gehe es vielmehr darum, das Unternehmen beim Übergang zur Produktion von grünem Stahl mit Hilfe von Wasserstoff zu unterstützen.

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) äußerte sich ablehnend mit Blick auf einen möglichen Einstieg des Staates bei Thyssenkrupp. Die Probleme der Stahlindustrie seien nicht in erster Linie mit einer Staatsbeteiligung zu lösen, sagte Altmaier.

Auch Jürgen Kerner, Bundesvorstand der IG Metall und Vize-Aufsichtsratschef des Thyssenkrupp-Konzerns, spricht sich vehement für einen Staatseinstieg aus. Für den 16. Oktober plant die IG Metall eine Großkundgebung in Düsseldorf in der Nähe von Staatskanzlei und Landtag.

Herr Wetzel, Herr Nasikkol, in der Corona-Krise ist Thyssenkrupp schwer in Bedrängnis geraten. Vorstandschefin Merz lotet nun die Chancen für einen Zusammenschluss mit einem Konkurrenten aus. Lässt sich das Unternehmen so retten?

Wetzel: Wir waren ja schon einmal ganz nah dran an einer Fusion. Da sollte der Partner Tata heißen. Heute ist mir klar: Wäre dieser Deal zustande gekommen, hätten wir jetzt sicher eine Pleite, so schlecht sollte das fusionierte Unternehmen finanziert sein. Auch heute bin ich sehr skeptisch. Frau Merz spricht im Zusammenhang mit ihren Fusions- oder Verkaufsplänen gerne von einem Optionenraum. Aber der Optionenraum ist leer, wenn der Maßstab eine sinnvolle Lösung ist.

Aber dem Vernehmen nach gibt es doch Interessenten wie den schwedischen Stahlkonzern SSAB, Baosteel aus China oder das international agierende Unternehmen Liberty Steel.

Wetzel: Generell stellen wir fest: Wir sehen derzeit keine Perspektiven außer ein Verramschen, Zerschlagen oder Resteverwerten. Daher sagen wir: Jetzt muss der Staat einsteigen. Es gibt keinen anderen Weg mehr, der zu einem guten Ergebnis führt.

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Damit stünden Steuergelder in Milliardenhöhe im Risiko. Kann das richtig sein?

Nasikkol: In den vergangenen zehn Jahren war es der Stahl, der Milliardengewinne für Thyssenkrupp erwirtschaftet hat. Wir sind kein Zombie-Unternehmen, das künstlich am Leben erhalten werden müsste. Die Corona-Krise ist es, die uns in diese Not bringt. Wir brauchen jetzt einen Schutzschirm.

Aber Thyssenkrupp hat doch gerade erst für mehr als 17 Milliarden Euro die Aufzugsparte verkauft. Reicht das Geld nicht?

Wetzel: Ein erheblicher Teil des Geldes wird vom Mutterkonzern gebraucht, um Löcher zu stopfen, die sich in der Corona-Krise auftun. Die Hoffnung, der Stahl könnte durch das Kapital aus dem Elevator-Verkauf einen Schub bekommen, hat sich leider nicht erfüllt. In absehbarer Zeit dürften die Milliarden aus dem Deal aufgebraucht sein.

Wie groß ist der Finanzbedarf beim Stahl?

Wetzel: Der anstehende Umbau der Produktion, um klimafreundlichen Stahl herzustellen, kostet viel Geld, das ist klar. Außerdem belasten uns Versäumnisse aus der Vergangenheit. Wir müssen leider feststellen, dass geplante Investitionen im Volumen von rund 700 Millionen, die der Aufsichtsrat von Thyssenkrupp Steel in den vergangenen zehn Jahren beschlossen hat, von den damaligen Vorständen nicht realisiert worden sind. Leider hatte mit Heinrich Hiesinger im Mutterkonzern jahrelang ein Manager das Sagen, der als Totengräber des Stahls agiert hat. Zum Glück haben wir heute einen anderen Vorstand.

Warum sollte der Staat die Probleme von Thyssenkrupp in den Griff bekommen?

Nasikkol: Es gibt gute Beispiele für uns. Niedersachsen ist seit Jahren an Salzgitter beteiligt, auch Saarstahl ist mit Hilfe des Staates und einer Stiftungskonstruktion gut aufgestellt worden. Jetzt ist der Punkt gekommen, an dem der Staat auch bei Thyssenkrupp handeln muss. Aus eigener Kraft können wir es nicht

Wohin steuert Thyssenkrupp? Der frühere IG Metall-Chef Detlef Wetzel (links), der die Interessen der Gewerkschaft im Aufsichtsrat von Thyssenkrupp Steel vertritt, und Stahl-Gesamtbetriebsratschef Tekin Nasikkol fordern vehement den Einstieg des Staates.
Wohin steuert Thyssenkrupp? Der frühere IG Metall-Chef Detlef Wetzel (links), der die Interessen der Gewerkschaft im Aufsichtsrat von Thyssenkrupp Steel vertritt, und Stahl-Gesamtbetriebsratschef Tekin Nasikkol fordern vehement den Einstieg des Staates. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

mehr schaffen. Am Stahl von Thyssenkrupp hängen direkt rund 27.000 Arbeitsplätze, weit über 150.000 Jobs sind es mit Zulieferern und den weiterverarbeitenden Betrieben. Ich kann mir Deutschlands Autobauer ohne den heimischen Stahl nicht vorstellen. Kurzum: Wir sind systemrelevant.

Für den Einstieg von Niedersachsen bei Salzgitter hat im Jahr 1998 der damalige Ministerpräsident und SPD-Kanzlerkandidat Schröder gesorgt. Ziel war es auch, einen ausländischen Konzern abzuwehren. Glauben Sie, Ministerpräsident Laschet könnte Thyssenkrupp ähnlich zur Seite springen?

Wetzel: Die Situation ist vergleichbar. Allerdings ist die Lage bei Thyssenkrupp noch dramatischer als 1998. Die Geschichte von Salzgitter zeigt, wie hilfreich ein Staatseinstieg sein kann. Ein gewisser Mut ist erforderlich, ohne Frage. Wir brauchen jetzt eine politische Entscheidung. Da ist Armin Laschet als Ministerpräsident gefragt.

Rechnen Sie mit einer Kontroverse innerhalb der schwarz-gelben Landesregierung?

Wetzel: Es ist keine Zeit für ordnungspolitische Debatten. Jetzt ist erste Hilfe notwendig. Wenn ein Sanitäter gebraucht wird, gibt es auch keine langen Diskussionen. Jeder, der dem Unternehmen diese Hilfe vorenthält, ist mitverantwortlich für das, was dann kommt. Es müssen sofort Lösungen her. Der Stahl steht vor seiner Existenzfrage. Das Land und der Bund sind in der Verantwortung, allen voran Ministerpräsident Laschet.

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Erhoffen Sie sich neben einer Landesbeteiligung auch ein Engagement der Bundesregierung? Bei der Lufthansa ist es der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF), der mit 20,5 Prozent eingestiegen ist. Schwebt Ihnen ein ähnliches Modell für Thyssenkrupp vor? Oder sollte der Staat sogar als Mehrheitsaktionär beim Stahl einsteigen?

Nasikkol: Zunächst ist eine politische Grundsatzentscheidung fällig, das sehe ich wie Detlef Wetzel. Wenn die grundsätzliche Frage geklärt ist, eröffnen sich verschiedene Optionen. Wohlgemerkt: Beim Umbau der Stahlindustrie hin zu einer klimaneutralen Produktion geht es um ein Projekt von hoher gesellschaftlicher Relevanz. Das dürfen wir uns durch die Pandemie nicht kaputt machen lassen.

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Rechnen Sie mit zusätzlichem Stellenabbau angesichts der Corona-Krise?

Nasikkol: Die Zeiten werden hart, auch mit einer Staatsbeteiligung. Aber so gibt es überhaupt eine Zukunft für das Unternehmen. Der Staat kann uns nur dabei helfen, das Schlimmste zu verhindern.

Sie zeichnen ein dramatisches Bild von der Lage. Macht Ihnen die Situation auch persönlich zu schaffen?

Wetzel: Es geht hier nicht um unsere Befindlichkeiten. Mein Eindruck ist generell: Das ist unser letzter Schuss. Viele Optionen, die es vor einigen Jahren noch gegeben hat, sind jetzt nicht mehr gegeben. Wenn es eine sinnvolle Lösung sein soll, so scheint mir die Staatsbeteiligung praktisch alternativlos zu sein. Sollte sie nicht zustande kommen, können auch wir keine Verantwortung mehr für das übernehmen, was die Konsequenz wäre.