Essen. Corona-Krise verschärft den Rückzug des Handels aus den Innenstädten. Ruhrgebiets-Oberbürgermeister in Sorge. Experten raten zu mehr Wohnungsbau.

Die Sorge um die Innenstädte ist so alt wie die Einkaufscenter auf der grünen Wiese. Seit einigen Jahren setzt zudem der Siegeszug des Onlinehandels den Läden zu. Nun hat die Corona-Krise die Lage der klassischen Einkaufsstraßen in der City noch einmal drastisch verschärft: Die wochenlangen Zwangsschließungen haben dem Onlinehandel einen weiteren Schub verliehen. Und sie haben einige große Ketten in Existenznöte gebracht. Das treibt die Stadtoberhäupter um. Essens OB Thomas Kufen (CDU) etwa kämpft um den Erhalt der beiden Karstadt- und Kaufhof-Standorte in seiner City, um größeren Schaden von der selbst ernannten Einkaufsstadt abzuwenden.

Sechs NRW-Modeketten unterm Schutzschirm

Mit Galeria Karstadt Kaufhof, Sinn, Esprit, Bonita, Hallhuber und Appelrath Cüpper hat sich gleich ein halbes Dutzend großer Filialisten aus NRW in ein Schutzschirmverfahren gerettet, um sich dem Zugriff der Gläubiger zu entziehen. Am Ende dieser Variante eines Insolvenzverfahrens in Eigenregie werden Sanierungspläne stehen, die viele Filialschließungen beinhalten dürften. Die Innenstädte und Shoppingcenter müssen sich darauf einstellen, dass größere Ladenflächen frei werden.

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„Die Lage hat sich durch die Corona-Krise deutlich zugespitzt“, sagt Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, „wenn laut Handelsverband 50.000 stationäre Einzelhändler vor der Pleite stehen, trifft das die Innenstädte natürlich besonders.“ Er sieht langfristige Folgen für die großen Citys: „Dass die Innenstädte in einem Jahr wieder genauso belebt sein werden wie vor der Krise, glaube ich nicht.“

Handelsexperte Gerrit Heinemann geht von noch höheren Pleitezahlen aus: So hätten die Prognosen vor Corona bis 2030 für rund 64.000 Geschäfte das Aus vorhergesagt – „ich glaube, dass wir diese Zahl nun bereits in diesem Jahr erreichen werden“, sagte er unserer Redaktion. Der Handels-Ökonom der Hochschule Niederrhein geht langfristig davon aus, dass etwa die Hälfte der rund 400.000 kleinen Einzelhändler in Deutschland verschwinden wird.

Zehntausende Läden vor der Schließung

„Dass es vor allem kleine, lokale Einzelhändler schwer haben, ist nichts Neues, die Corona-Krise wirkt da wie ein Katalysator“, so Heinemann. Im Non-Food-Bereich verliere der Einzelhandel in diesem Jahr 30 bis 40 Milliarden Euro Umsatz, der einzelne Händler 20 bis 30 Prozent. Letzteres könne „kein Händler überleben“, so Heinemann. Zumindest nicht ohne „radikale Sanierungsmaßnahmen wie etwa ein Schutzschirmverfahren“. Was derzeit viele Filialisten tun.

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Beide Kenner der Innenstadt-Problematik sind überzeugt, dass auch der krisenbedingte Online-Boom langfristig stationäre Umsätze kosten wird: „Viele haben in dieser Krise zum ersten Mal online eingekauft und gemerkt: Das funktioniert ja. Diese verlorenen Umsätze werden nicht ganz in die Läden zurückkommen“, meint Landsberg. Auch Heinemann glaubt, der Onlinehandel werde sich weiter durchsetzen. Dass die Umsätze in den Läden auch nach den Lockerungen deutlich unter Vor-Corona-Niveau blieben, sei ein erstes Indiz dafür.

Konzepte in Essen, Duisburg und Bochum

Die Innenstadt von Duisburg ist wieder belebt, aber der Handel nicht zufrieden.
Die Innenstadt von Duisburg ist wieder belebt, aber der Handel nicht zufrieden. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Den großen Ruhrgebietskommunen bereiten ihre Innenstädte seit Jahren zunehmende Sorgen, sie versuchen mit diversen Konzepten, sie lebendig zu halten bzw. wiederzubeleben. Dabei steht der Einzelhandel weiter im Mittelpunkt. Duisburg etwa hat den Platz vorm Hauptbahnhof und damit das Eingangstor zur Innenstadt neu gestaltet. OB Sören Link (SPD) ist sich der zugespitzten Lage aber bewusst: „Dennoch wird die Coronakrise auch die Entwicklung unserer Innenstadt beeinflussen“, sagte er unserer Zeitung, „wir werden deshalb weiterhin in sehr engem Dialog mit unseren Händlern bleiben und stark auf kreative und individuelle Angebote setzen.“

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Bochums OB Thomas Eiskirch (SPD) verweist auf ein 10-Punkte-Programm, mit dem Stadt „gemeinsam mit Handel und Gastronomie frühzeitig auf die Folgen der Corona Pandemie reagiert“ habe. Essens OB Kufen versucht derweil Einfluss zu nehmen auf die Standortentscheidungen von Galeria Karstadt Kaufhof. Die Warenhauskette will 60 bis 80 ihrer 172 Filialen schließen. In der Essener City stehen gleich zwei, Kaufhof am Hauptbahnhof und Karstadt als Herz der Shoppingmall Limbecker Platz. „Durch die Sicherung der Warenhaus-Standorte bleiben Arbeitsplätze in Essen erhalten. Deshalb müssen alle Seiten intensiv für eine zukunftsfähige Ausrichtung zusammenarbeiten“, so Kufen.

Städte versuchen ihre Zentren zu beleben

Dass die Zukunft der Innenstädte aber nicht allein am Erhalt der Warenhäuser hängen wird, weiß Kufen gleichwohl: Essen wolle „attraktive Anlässe schaffen, damit wieder mehr Menschen in die Innenstadt oder die Stadtteilzentren kommen“. Dazu gehören „wechselnde Aktionen aus den Bereichen Kunst, Kultur und Freizeit“. Stets mit dem Ziel, mehr Menschen dahin zu locken, wo die Einzelhändler sitzen.

Bochums OB Eiskirch setzt auf Kampagnen zur Neubelebung der City. „Wir unterstützen damit eine neue Lust auf die Innenstadt“, sagt er und nennt als Beispiele temporäre Spielflächen, Mobilitäts-Initiativen rund um Bus, Bahn, Parken und Radverkehr sowie eine Online-Plattform für den lokalen Einzelhandel und die Gastronomie.

Experten fordern mehr Wohnungsbau in der City

Essens „grüne Mitte“: Experten wünschen sich mehr Wohnungsbau mitten in der City, so wie hier zwischen dem Einkaufscenter Limbecker Platz (rechts), der Zentrale der Funke Mediengruppe und der Universität.
Essens „grüne Mitte“: Experten wünschen sich mehr Wohnungsbau mitten in der City, so wie hier zwischen dem Einkaufscenter Limbecker Platz (rechts), der Zentrale der Funke Mediengruppe und der Universität. © FUNKE Foto Services | Michael Gohl

Während die Städte auf verschiedene Weise um ihre Händler kämpfen, raten ihnen Experten, sich nicht darauf zu versteifen. „Die Kommunen müssten auf den Rückzug des Handels auch planungsrechtlich reagieren und andere Nutzungen ermöglichen“, sagt etwa Städtebund-Geschäftsführer Landsberg. Neben Gastronomie und Kultur zählt er dazu auch die Schaffung von Wohnraum, was in den Innenstädten lange zu kurz gekommen sei.

Auch Handelsprofessor Heinemann empfiehlt den Städten, „nicht gegen Windmühlen zu kämpfen, sondern das Beste draus zu machen“. Was bedeute, den Rückzug des Einzelhandels hinzunehmen und nicht verkrampft an der Nutzung der frei werdenden Flächen festzuhalten, sondern etwa mehr Wohnungsbau zu ermöglichen. Dies umso mehr, weil nach der Corona-Krise weniger Büroräume gebraucht würden. Wie Landsberg glaubt Heinemann, dass Corona dem Homeoffice zum Durchbruch verholfen habe: „Ich kenne viele Unternehmen, die ihre Büroflächen halbieren wollen, weil das Homeoffice funktioniert.“

Immobilien-Abwertungen treffen Sparkassen

Der Ökonom sieht freilich auch die Kehrseite: Der Wert der Immobilien werde durch den Rückzug von Handels- und Büroflächen sinken, was massive Abschreiben zur Folge haben und auch den örtlichen Sparkassen schaden werde. Die Immobilienbesitzer sollten deshalb überdenken, ob es nicht besser sei, „von ihrem hohen Ross runterzukommen und endlich sozialverträgliche Mieten zu nehmen“. Das könne auch viele Einzelhändler retten.